Vor meinem Fenster stehen sie wieder. Es ist Sonntag neun Uhr. "Wofür stehen die so früh auf?", frage ich mich. Es sind dieselben wie gestern und vorgestern und vor einem Monat, sie stehen den ganzen Sommer. Nachts um zwölf stehen sie noch immer - und reden und halten sich an ihren Bierflaschen fest. Einzelne trinken Coca, die bleiben aber nicht lange. Wenn ich das Fenster öffne, höre ich ihre Stimmen, die hohen dringen durch. Meine Nachbarin will mal ein Mikrophon ans Fenster stellen und aufnehmen, was die alles so reden. "Und was machst du dann damit?" Sie weiß es noch nicht. Ein Kind läuft verloren in der Gruppe herum. Es schmiegt sich an den Vater, der nicht reagiert. Es läuft auf die Mutter zu, sie umarmt es, stößt es dann von sich. Noch eine Frau steht in der Gruppe, sie lacht gerne, ergreift laut das Wort. "Nach der Wende verlor sie ihren Job", erzählt mir meine Nachbarin. "Vier Kinder hat sie. Zwei sind ihr weggenommen worden, nachdem die beiden kleinen Mädchen nachts nackt durch die Straße gelaufen sind. Die Polizei hat sie aufgegriffen, jetzt leben sie im Heim. Die anderen beiden sind glücklicherweise schon älter, die 16-Jährige wohnt nicht mehr zu Hause."
Karl Kunger war Widerstandskämpfer, er war Mitglied der KPD und schleuste von 1935 bis 1938 gefährdete Personen über die Grenze in die Tschechoslowakei. Er arbeitete in der AEG-Apparatefabrik Treptow und soll eine "illegale kommunistische Betriebszelle" geleitet haben. Im September 1942 wurde er verhaftet, sechs Monate später zum Tode verurteilt und im Juni 1943 in Plötzensee hingerichtet.1962 wurde die Straße nach ihm umbenannt, früher hieß sie Graetz-Straße, aber wer weiß das noch.
"Der Besitzer des Zeitungsladens zieht sie sich heran", erzählt meine Nachbarin. "Er lässt immer anschreiben, deshalb sind sie ihm treu." Er verkauft die Zigaretten auch einzeln, auch an Leute, die sich das Rauchen abgewöhnen wollen und doch nicht davon lassen können. 1992 hat er den Laden eröffnet. Er bietet auch ein paar warme Croissants an, mit Würstchen drin, ganz gute Ware und nicht sehr teuer.
Die Gruppe steht gegenüber vor einem leeren Laden. Drei große Schaufenster zeigen verwaiste Räume. "In dieser Straße gab es lauter kleine Läden bis das Parkcenter kam", erzählt meine Nachbarin. Der Laden steht seit zwei Jahren leer. Zwischenzeitlich prangte ein großer Zettel an der Schaufensterscheibe: "Lassen Sie sich was einfallen, machen Sie uns ein Angebot." Eines Tages liegen im Laden Decken und Matratzen auf dem Boden herum, eine junge Frau seh ich mal irgendwas hantieren. Dann verschwindet die Frau mit den Decken und Matratzen wieder. Gegenüber ein Trödelladen, spezialisiert auf Wohnungsauflösungen. "Colibri" steht noch auf dem Schild, das ganz verblasst aus der Hauswand ragt. Der Laden stand viele Monate leer, dann zog der Trödelhändler ein. Dabei gab es schon einen Trödelladen ein paar Häuser weiter. Es ging nur wenige Monate, dann war der Trödelhändler wieder draußen. Gerümpel stellte man einfach auf der Straße ab, irgend jemand wird es schon mitnehmen. Überraschend ist auch der alte Trödelladen ausgezogen, jetzt werden dort nur noch Ideen verkauft.
Die Gruppe ist 15 Meter weiter gewandert, zu den nächsten leeren Schaufenstern. Denn an den bisherigen prangt seit neuestem in aufdringlich großen Buchstaben "mit Hilfe e.V." Sie meiden jetzt die Fenster somnambul.
Der kleine Laden im Nachbarhaus hat auch ein neues Schild, "Versicherungen". Dafür ist der Laden neben ihm jetzt leer, vorher gab es dort Korbmöbel.
Ein Stück die Straße hinunter hat ein neuer Imbiss aufgemacht. Wahrscheinlich kocht hier niemand in der Straße. Nicht unweit davon findet man ein türkisches Bistro, mit türkischer Pizza und halben Hähnchen für zwei Euro. "Hier muss alles billig sein, sonst kaufen es die Leute nicht", sagt meine Nachbarin. Gegenüber bietet die Fleischerei einen wechselnden Mittagstisch an. Für 3 Euro 60 eine Roulade mit Kartoffeln und Rotkraut zum Beispiel. Weiter unten steht am Schaufenster der Pizzeria "Nachmieter gesucht", monatelang habe ich nur vereinzelt Gäste darin sitzen sehen.
"Die Welt des Essens" um die Ecke fängt alle auf, Pizza für 1 Euro 50. Aber das ließ sich nicht halten, jetzt werben sie für zwei Euro mit "Pizza muss auch nach was schmecken!"
"Wir wollen mehr Vielfalt", forderten vor fünf Jahren einige Bezirksfraktionäre. Zehn Straßennamen mit kommunistischen Widerstandskämpfern in Treptow seien zuviel, hier müsse ein neuer Straßenname her. Einen Vorschlag hatten sie auch schon: Alois Klöcker, Zentrumspolitiker und Beamter, zwangsentlassen von den Nazis und Mitbegründer der CDU Treptow. "Wenig später hingen an allen Straßenschildern handgeschriebene Zettel, um über Karl Kunger aufzuklären, und die Idee war vom Tisch", erzählt meine Nachbarin, "wir haben wirklich andere Sorgen".
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