Ablenkungsmanöver

Residenzpflicht Menschen mit anerkanntem Flüchtlingsstatus unter bestimmten Umständen einen Wohnort zuweisen? Könnte auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Aber nur auf den ersten

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Die Phase der Residenzpflicht kann schnell verlorene Zeit werden
Die Phase der Residenzpflicht kann schnell verlorene Zeit werden

Bild: Sean Gallup/Getty Images

Zum Wesen von Grundrechten gehört, dass sie unverhandelbar sind. Dass sie nicht ohne weiteres als Abwägungsmasse relativiert werden können, wenn sie dabei hinderlich sind andere Ziele zu erreichen. Da dies keine Rechtskolumne ist, geht es hier nicht um solche Fälle, in denen diese leicht dahingesagten Sätze Konfliktstoff bieten, etwa wenn das eine Grundrecht eingeschränkt wird, damit ein anderes erhalten bleibt. Es geht darum, dass man mit Grundrechten nicht leichtfertig umgehen darf, wenn es dabei hilft, politische Versäumnisse zu kaschieren und von fragwürdigen Praktiken abzulenken.

Die Freizügigkeit ist, soweit mein Sachverstand reicht und falls Wikipedia Recht hat, ein Grundrecht, eines, das „Deutschen im Bundesgebiet“ eingeräumt wird. Und dieses Grundrecht kann eingeschränkt werden, zum Beispiel „wenn daraus Lasten für die Gemeinschaft entstehen, zur Abwehr von Gefahren für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes.“ (1) Insofern muss man (zumindest vorerst) nicht, da nun für anerkannte Flüchtlinge, die keine Arbeit haben, die Wohnsitzauflage eingeführt wurde, die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie gefährdet sehen. Allerdings wird einem auch nicht gerade warm ums Herz. Die Wohnsitzauflage soll die überlasteten Wohnungsmärkte entlasten. Und sie soll dadurch auch helfen, strukturschwache Regionen zu stärken, wo möglicherweise zumindest vorübergehend das Problem des Leerstands gemildert werden könnte. (2)

Soweit so einfach. Vielleicht etwas zu einfach. Denn dass die Wohnungsnot, wo sie besteht, nicht durch geflüchtete Menschen hervorgerufen wurde, sollte ein Gemeinplatz sein – das heißt aber vor allem, dass sie auch nicht gelöst wird, wenn man diese Menschen in andere Regionen schickt. Genausowenig ändert man dadurch etwas an den strukturellen Ungleichgewichten, die an diesen anderen Orten Leerstand hervorrufen. Man wäre ja etwas milder gestimmt, wenn sich schon seit vielen Jahren Politiker auf allen Ebenen aufrichtig darum bemühten, die Schieflagen auf dem Wohnungsmarkt zu bekämpfen. Davon kann aber keine Rede sein. Man lief und läuft schon viel zu lange neoliberalen Chimären hinterher, bediente Lobbyinteressen, meinte, der Markt werde es schon richten. Jahrelang hielt man es nicht für nötig, in sozialem Wohnungsbau zu investieren. Geschweige denn, dass man die guten Zeiten dafür genutzt hätte, Experimente zu wagen, neue Instrumente zu testen, genossenschaftliche Modelle zu implementieren und all die zivilgesellschaftlichen Akteure stark zu machen, die sich auch in schwereren Zeiten für die Stadt und die Quartiere engagieren. Hat man aber nicht, von Ausnahmen abgesehen.

So ist nun einiges im Argen. Und erst jetzt, wo man nicht mehr so recht weiter weiß, erinnert man sich all der Initiativen und Modelle, die den Boden der Spekulation und der Renditeorientierung entziehen könnten, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Dass alternative Wohnmodelle nur in der Krise gefördert würden, wurde auf dem Kongress der Nationalen Stadtentwicklung beklagt. Ebenso, dass es nicht sein könne, dass koreanische Investoren mehr hofiert würden als die ehrenamtlich Engagierten, die sich für eine stabile Nachbarschaften einsetzten.

Den Teufel mit Beelzebub austreiben

Von den Versäumnissen, die sich in solchen Worten äußern, abzulenken, in dem man die, die sich am wenigsten wehren können, hin und her schiebt, das ist wahrlich scheinheilig und unanständig. Man wird damit keines der Probleme lösen, mit deren Milderung man solcherlei Aktionismus rechtfertigen mag. Im Gegenteil suggeriert man genau dies: dass diese Menschen mitverantwortlich seien für die Wohnungsnot auf der einen Seite, dass sie sich nicht integrieren wollen, wenn sie daran scheitern, sich in Orten zurechtzufinden, die schon vorher mit Problemen zu kämpfen hatten, auf der anderen Seite.

Man wird dort die Probleme allenfalls verlagern: Nach der durch eine Residenzpflicht erzwungenen Aufenthaltsdauer kommt es dann erst recht zur Abwanderung, für die betroffenen Menschen ist wertvolle Zeit verloren, sich zu integrieren. Die Phase der Residenzpflicht sei deswegen zugleich eine verlorene Zeit für Qualifizierung und persönliche Weiterentwicklung, so war kürzlich in einer Publikation der ARL zu lesen. (3)

Es wird also gerade das ad absurdum geführt, was als Rechtfertigung für die Wohnsitzauflage gilt: die Integration zu erleichtern. Es mag im Gesetztestext stehen, dass man einen anerkannten Flüchtling nur zu einem Wohnort verpflichten kann, „wenn dies der Förderung seiner nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland nicht entgegensteht.“ (4) Ob in der Realität dann auch immer dieser Maxime gefolgt werden wird, ist eine andere Frage. Man darf zu Recht anzweifeln, dass das der Fall sein wird. Denn die Rhetorik im Vorfeld war eine andere.

Ohne die Residenzpflicht riskiere man Ghettos, hatte etwa der Bundesinnenminister Thomas de Maizière Anfang des Jahres gesagt. (5) Das ist nun tatsächlich eine schlimme paternalistische Haltung und eine Art, mit Menschen unter dem Vorwand des Allgemeinwohls umzugehen, auf die eine funktionierende Demokratie nicht angewiesen sein darf. Damit werden gleichzeitig all die unglückseligen Bilder beschworen, mit denen schon seit geraumer Zeit meint, Stimmung gegen alle machen zu müssen, die als Außenseiter identifiziert werden könnten.

Aus sozialen Problemen werden räumliche gemacht. Die Entstehung von Ghettos – die es in Deutschland nicht gibt, man treibt nur unangemessen Schindluder mit diesem Wort (6) – verhindert man nicht, in dem man Menschen zwingt, an einem bestimmten Ort zu wohnen. Das wäre den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, ist ein Ghetto doch eben genau dadurch charakterisiert, dass es nicht durchlässig ist, sprich, dass Menschen, die dort einmal gelandet sind, in der Sackgasse stecken. Dass sie also das Recht auf Freizügigkeit, wenn auch nicht im juristischen Sinne, dann doch faktisch nicht mehr in Anspruch nehmen können. Mögen manche Quartiere in deutschen Städten schwer zu stabilisieren, ein echtes Problem für die Verwaltungen und eine schwere Option sein für die, die dort wohnen – man löst das Problem nicht, in dem man Maßnahmen ergreift, die an den Ursachen für die Probleme dieser Quartiere nicht rühren wollen.

Ein Weg, mit ihnen umzugehen, müsste doch vielmehr der sein, den dort lebenden Menschen zu zeigen, dass man sie als vollständig akzeptierte und respektierte Mitglieder unserer Gesellschaft versteht. Das kann man nicht glaubhaft tun, wenn man anderen, von denen man fürchtet, sie könnten an diesen Orten wohnen werden, genau das entzieht, was sie erst zu vollständig akzeptierten und respektierten Mitglieder unserer Gesellschaft macht: das Recht auf Freizügigkeit.

(1) Der vollständige Wortlaut: >hier

(2) siehe bspw. das Diskussionsforum „Zustrom von Flüchtlingen und die Einflüsse auf die Raumentwicklung“. In der Eingangspräsentation von Katrin Fahrenkrug und Michael Melzer heißt es: „Insbesondere Familien können „auf dem Land“ schneller integriert werden, günstig(er) im Leerstand unterkommen sowie die Schließung von Kitas und Schulen verhindern. Wir sollten die Integration von Asylsuchenden im ländlichen Raum als Chance zur Minimierung des demografischen Wandels wahrnehmen und können dies auch im gewissen Umfang erfolgreich schaffen."

(3) Peter Dehne und Jörg Knieling: Residenzpflicht für Flüchtlinge als Instrument der Raumordnung? In: Nachrichten. Magazin der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, 1/2016, S. 4–8; hier S. 7.
Online: >hier

(4) Der vollständigen Wortlaut: >hier

(5) In: Die Zeit vom 21. Februar 2016: >hier

(6) Walter Siebel: „Es gibt keine Ghettos!“. In: Die Zeit vom 25. April 2013: >hier

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christian Holl

Freier Autor, Kritiker und Kurator in den Bereichen Architektur, Architekturtheorie und Städtebau.

Christian Holl

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