Einfacher ist selten richtiger

Architektur Medientypische Zuspitzungen können dem Diskurs über Architektur und Planung dienen. Sie sind aber auch eine Gefahr. Architektur löst nicht vermeintlich einfache Probleme.

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http://www.frei04-publizistik.de/data/webserver/bilder/Holl_Medien.JPGIn Mailand eröffnete am 1. Mai die Expo, und wieder einmal kann man mit der Architektur des deutschen Pavillons nicht zufrieden sein. Das Internetportal Stylepark, das Internetmagazin Uncube sowie die FAZ haben bereits die Architektur dieser und vergangener Weltausstellungen kommentiert. Es werden nicht die letzten Berichte über die Expo und deren Architektur in diesem Jahr gewesen sein. Hier geht es allerdings nicht um das Urteil der Journalisten, sondern um die Tatsache, dass sie über die Expo und den deutschen Pavillon berichten. Bemerkenswert ist nicht nur, dass sie berichten, sondern auch, dass sie das Ergebnis beklagen. Man geht selbstverständlich davon aus, dass es besser wäre, der deutsche Pavillon würde architektonisch zufrieden stellen und man müsste nicht über die „Mischung aus Kindergeburtstag und Geisterbahn“ klagen (Bauwelt 19/2013) oder sich bereits bei der Programmvorstellung fühlen „wie auf einem Dorffest bei fortgeschrittener Stunde.“ (Bauwelt 11/2015).

Sichtbarmachen durch Ausblenden

Die Expo in Mailand wird auf einem Areal stattfinden, das etwa 110 Hektar groß ist. Es ist also in etwa 1,5 mal so groß wie die Fläche, die in Deutschland zwischen 2009 und 2012 jeden Tag neu bebaut wurde. Selbst wenn wir davon ausgingen, dass das Ziel, diese Zahl auf 30 Hektar zu beschränken, bereits erreicht wäre, wäre innerhalb von weniger als vier Tagen eine Fläche bebaut, die genauso groß ist wie das Areal der Expo. Über das, was auf diesen 110 Hektar entsteht, nimmt die Architekturkritik so gut wie keine Notiz. Es würde Kritiker wie Rezipienten allerdings auch überfordern. Dass Journalisten auswählen und dabei radikal aussortieren müssen, ist aber nur ein Teil dessen, was die Repräsentanz von Architektur in den Medien bestimmt. Viel wichtiger ist es, wie sie auswählen – danach, ob das, worüber sie berichten, mediengerecht also außergewöhnlich, besonders, bewegend und letztlich auch gefragt, also kommerziell rentabel ist. Die Verzerrung des Bilds der Wirklichkeit in den Medien ist nicht nur deswegen eine, weil sie nur einen winzigen Teil von ihr zeigt, sondern auch, weil sie nur über das berichtet, was durch das Außergewöhnliche die Aufmerksamkeit des Lesers in Anspruch zu nehmen verspricht. Das ist erst einmal nicht zu beklagen, sondern zur Kenntnis zu nehmen – wem wäre auch ein Vorwurf zu machen? Man sollte nur nicht meinen, das hier „die“ Wirklichkeit abgebildet wird. Es wird eine konstruiert: „Die Medien sind heute integraler Bestandteil der Wirklichkeit oder, wenn man so will, produzieren Wirklichkeitseffekte, indem sie eine mediale Sichtweise der Realität kreieren, die zur Schaffung der Wirklichkeit, die zu beschreiben sie vorgeben, beiträgt.“ (1) Diese Konstruktionsarbeit wird dadurch verstärkt, dass die Medien sich selbst zu beobachten. Niemand liest soviel Zeitungen oder Zeitschriften wie ein Journalist. Manche Themen werden allein schon deswegen aufgegriffen, weil es die Konkurrenz macht. Das relativiert die Relevanz der behandelten Themen. Überhaupt: was heißt das eigentlich – relevant? Warum ist es wichtig, ob sich Deutschland auf der Expo architektonisch zufriedenstellend präsentiert?

Die Überzeichnung des Alltäglichen

An dieser Stelle ist der Sachverhalt aber noch nicht zu Ende gedacht. Denn es stellt sich ja die Frage, wie die Themen, die Journalisten aufgreifen, sich zu dem verhalten, was sie nicht aufgreifen. Repräsentiert das Besondere in irgendeiner Form das Gewöhnliche? Hat es in Bezug auf das Alltägliche ein Bedeutung? Zur Konstruktion der Wirklichkeit durch die Medien gehört es, vorzugeben, man bilde sie ab. Nur so erfüllt diese Konstruktion eine Wirkung: sie muss unsichtbar bleiben. Und so wird nicht nur über das Außergewöhnliche (die Philharmonie, das Museum, das extravagante Einfamilienhaus) berichtet, sondern über das Alltägliche in einer Weise, die es zu etwas Besonderem macht – und damit den Bericht wiederum rechtfertigt. Wenn das Alltägliche nicht nur das ist, was die breite Masse des Gebauten und Geplanten ausmacht, sondern das Alltägliche auch das ist, was als Rezeptwissen auf wiederkehrende Situationen uns frei macht, uns auf das zu konzentrieren, was nicht alltäglich ist und uns vor Überforderung schützt, dann ist alltäglich auch jenes Bauen, das nicht, oder nicht mehr hinterfragt wird. Da die Situationen, auf die sich dieses Rezeptwissen beruft, einander ähnlich sind, sich aber nie vollständig gleichen, wird die Gleichheit konstruiert, in dem die Abweichung von der Regel ignoriert wird. Daran setzt das Medieninteresse an: Es richtet sich auf die Frage, ob die Abweichung noch so gering ist, dass die Routine gerechtfertigt ist. Das Alltägliche wird daraufhin befragt, ob es noch berechtigterweise alltäglich ist. Oder ob es nicht verändert werden müsste, und um diesen Änderungsbedarf plausibel zu machen. Das Aufgreifen das Alltäglichen unterstellt aber bereits, dass es nicht alltäglich sei, und so wird notwendigerweise von vorneherein überzeichnet oder skandalisiert, um die konstatierte Abweichung sichtbar zu machen. Also wieder eine Konstruktion, davon motiviert, das Interesse am Alltäglichen zu demonstrieren, um so dem Vorwurf zu entgehen, stets nur über das Spektakuläre zu reden – um darin paradoxerweise genau diesen Vorwurf zu bestätigen, zumal im Journalismus nicht nach einer Belastbarkeit der essayistischen Thesen gefragt wird. Was zählt, ist, ob sich darin die Wahrnehmung des Lesers und dessen Erwartung an das Medium, dessen Profil, das permanent „geschärft“ werden muss, bestätigt sehen kann.
Darin unterscheiden sich Publikationen zum selben Thema in journalistischen Medien von wissenschaftlichen eklatant. Kein ernsthafter Wissenschaftler würde behaupten, dass der Städtebau des 20. Jahrhunderts eine Geschichte des Scheiterns ist. Ein Publikumsmedien darf das. Auf diese Weise werden Miseren konstruiert. wie die der Ghettos in Großwohnsiedlungen, der Einsamkeit der Hochhausbewohner oder der trübseligen Einfamilienhausgebiete. Es ist nicht anzunehmen, dass alle Bewohner der 15 Millionen Einfamilien- und Doppelhäuser der Bundesrepublik dies so empfinden. Es ist vor allem zu fragen, ob mit ihrer Abwertung ein Umgang mit diesem Bestand tatsächlich zu finden ist.

Konstruktionen für Medien

In dieser Weise werden Sachverhalte nicht nur von, sondern auch für die Medien konstruiert, um sie für die Medien attraktiv zu machen: die Dramatik des Energieverbrauchs von Gebäuden (2) oder die der Städte, die angeblich noch nie so hässlich waren wie heute. Dass dabei auch Interessen bedient werden, ist offensichtlich. Städtischen Marketingstrategen, gewieften Investoren und Politikern könnte das Klagen über die hässlichen Städte vor allem in den Cities durchaus entgegenkommen; sie wissen es unter Umständen auch für sich zu nutzen. Das muss kritisch machen, nicht oder nicht nur wegen der Übereinstimmung der Interessen. Sondern vor allem, weil die vereinfachende (oder, wie es oft so schön beschönigend heiflt, zuspitzende) Formulierung eines Problems zum einen ein Problem erst zu einem solchen macht und zum anderen in Aussicht stellt, dass die Lösung genauso einfach ist. Radikalität ist in den meisten Fällen vor allem Bequemlichkeit.
Kritisch gilt es deswegen zu sein, weil damit unterstützt wird, was Lucius Burckhardt als Instrumentalisierung des Planers und Architekten für die Politik ausgemacht hat: dass ein Zusammenhang so konstruiert wird, dass ein Gebäude als die Lösung eines Problems erscheint. Dabei wird nicht nur das Problem in seiner Komplexität reduziert, sondern auch die Architektur auf dessen Lösung. Und damit suggeriert, der Auftrag sich um Architektur zu kümmern, sei durch die Fertigstellung beendet, und nun müsse sich nur noch die Nutzer an das Programm halten, das ihm zugrunde gelegt wurde.
Das betrifft Architekten, sie sind aber keinesfalls die Alleinverantwortlichen dafür. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann hat dargestellt, dass es eine verführerische und menschliche Neigung ist, aus bekannten Tatsachen kausale Zusammenhänge herzustellen, um das Bedürfnis nach einer (einfachen) Erklärung zu stillen. Der Mensch neigt dazu, sich aus dem, was er sieht und weiß, Kohärenz zu konstruieren, ohne das jeweils zu hinterfragen. Er irrt dabei öfter als er meint. Unter anderem, weil er zu wenige Beobachtungen einholt. Die Rolle der Presse und der Medien sollte es sein nun die, diese Neigung zu hinterfragen. Leider machen Journalisten dabei oft genau den Fehler, den sie eigentlich korrigieren sollten: Sie treiben den Teufel mit Beelzebub aus. Weder sind Großwohnsiedlungen grundsätzlich ein Problem, noch sind sie grundsätzlich unproblematisch. Ihr Problem kann vor allem eines sein, das nicht damit zusammenhängt, dass sie Großwohnsiedlungen sind. Gleiches gilt für Einfamilienhausgebiete.

Problemlösung als Verführung

Das kann aber fatale Folgen haben, wenn sich diese mediale Eigengesetzlichkeit (Wunsch nach einem Ereignis) mit der Erwartung des Lesers (ein Problem zu identifizieren und eine Lösung angeboten zu bekommen) und dem Wunsch des Politikers trifft, sich als Problemlöser inszenieren zu können. So entsteht, was erst als Lösung, dann als Problem erscheint. Früher baute man Hochstraßen, heute werden Tunnel bevorzugt. Architektur und Stadtplanung wird darauf reduziert, Lösung eines Problems zu sein.
Dies schmeichelt einerseits der Eitelkeit der Architekten. Und macht sie andererseits für Dinge verantwortlich, die sie nur sehr begrenzt zu verantworten haben. Aber selbst das könnte ihnen schmeicheln, denn in beiden Fällen wird der Architektur zugeschrieben, Ursache dessen zu sein, was sich in ihr besonders plakativ als Wirkung zeigt. Und macht unsichtbar, was Architekten leisten und was Architektur leisten kann: die Härten zu mildern, die sie nicht verursacht hat.(3) Dabei muss verteidigt werden, dass bei der Planung nicht alles gewusst werden kann, was von ihr erwartet werden könnte. Architektur kann also auch keine abschließende Problemlösung sein. Das Interesse an der Nutzung von Architektur und die Frage, wie ein neuer Umgang mit dem Bestehenden gefunden werden kann könnte nicht nur bei Architekten größer sein. Dabei heiflt es nicht, dass jede Verzerrung der Medien notwendigerweise schlecht sein muss, sie kann auch befördern, was in Mühlen der Relativierung wenig Chancen hätte und eine gründliche Untersuchung, ein gründlicheres Nachdenken erfordert, als es sich die Medien leisten könnten. Es muss aber auch zugestanden werden können, dass eine einmal gemachte Zuspitzung nicht richtig gewesen ist. So ist die erneuten Enttäuschung über die einmal mehr unbefriedigende Repräsentanz Deutschlands auf der Expo ein Beitrag dazu, sie prinzipiell in Frage zu stellen, aus Gründen, die mit ihrer Architektur nichts zu tun haben müssen. Möglicherweise ist die Expo nur noch ein teures Auslaufmodell. Dessen Lebensdauer verkürzt zu haben, könnte dann ein Beitrags der Medien gewesen sein.

(1) Patrick Champagne: Die Sicht der Medien. In: Pierre Bourdieu et al.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz 1997
(2)So stellt sich die Frage, warum der Energieverbrauch von Gebäuden und nicht der Prokopf-Verbrauch thematisiert wird.
(3) Aber auch darauf kann Architektur nicht reduziert werden.

Literaturhinweise
Über die Eigengesetzlichkeit des Fernsehens: Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt 1998. Man kann viele der Befunde auf andere Medien übertragen.

Pierre Bourdieu et.al.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997. Die Studie macht deutlich, wie wenig die Berichterstattung in den Medien, die Urteile der Öffentlichkeit und die Maflnahmen der Politik dem gerecht werden, worauf sie sich beziehen.

Über das Alltägliche und seine Bedeutung, sein Wesen und seine Grenzen: Hans Paul Bahrdt: Grundformen sozialer Situationen. Eine kleine Grammatik des Alltagslebens, München 1996

Über die Neigung des Menschen, schnell auf der Basis verfügbarer Tatsachen Schlüsse zu ziehen, die aller Wertschätzung von Intuition zum Trotz oft falsch sind: Daniel Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken. München 2012.

Über die Wege, die dazu führen, Architektur auf die Lösung eines Problems zu reduzieren: Lucius Burckhardt: Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch. Herausgegeben von Jesko Fezer und Martin Schmitz. Berlin 2004.

Über "bösartige" Probleme, auf die es keine eindeutige und einfach Lösung gibt: Horst W. Rittel: Thinking Design. Transdisziplinäre Konzepte für Planer und Entwerfer. Neu herausgegeben von Wolf D. Reuter und Wolfgang Jonas. Basel 2013

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christian Holl

Freier Autor, Kritiker und Kurator in den Bereichen Architektur, Architekturtheorie und Städtebau.

Christian Holl

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