Im Netz der Frontlinien

15. Architektur-Biennale In Venedig wird die gesellschaftliche Relevanz von Architektur und Städtebau demonstriert und eingefordert, teilweise auf beeindruckende Weise. Dennoch bleiben Fragen.

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"Immigrant market building" von Alexander D' Hooghe
"Immigrant market building" von Alexander D' Hooghe

Foto: Vincenzo Pinto/Getty Images

Ganz ohne Stars kommt auch Alejandro Aravena, 2016 der künstlerische Leiter der Architektur-Biennale, nicht aus. Richard Rogers, Norman Foster, David Chipperfield. Zumthor, Sejima und Nishizawa. Einige präsentieren sich zurückhaltend mit einem bescheidenen Beitrag, dezidiert die Intentionen Avarenas respektierend. Chipperfield zeigt den Entwurf des Naga-Museums im Sudan für die Ruinen einer untergegangenen Stadt eines ebenso untergegangenen Königreichs. SANAA zeigen Pavillons für die Insel Inujima, die kaum noch bewohnt wird. Die Pavillons lassen in der Schwebe, ob man sich melancholisch einer vermeintlich besseren Vergangenheit oder einem zukünftigen Szenario, das kaum mehr vom Menschen bestimmt wird, zuwendet. Andere Berühmtheiten, wie Zumthor, Christ und Gantenbein oder Tadao Ando blamieren sich mit selbstgefälliger Eigenwerbung nach Kräften.
Aber wie auch immer sie auftreten: Die vermeintlichen Architekturgrößen bestimmen nicht das Bild dieser Biennale. Wer sich in der Welt der westlichen Upperclass-Architekturszene aalen will, muss Orte der Begleitveranstaltungen aufsuchen. In der Hauptausstellung selbst geben andere den Ton an. Von den 88 Teilnehmern aus 37 Ländern nehmen 50 zum ersten Mal teil, 33 sind unter 40. Berichte von der Front hatte Avarena versprochen, und gleich selbst eine zum Biennale-Ausstellungsbetrieb aufgebaut: Die beiden Eingangsräume der Hauptausstellungen im Arsenale und den Giardini verarbeiten Material, das von der vorherigen Kunst-Biennale geblieben ist: Gipskartontafeln und Aluminiumprofile. Darüberhinaus ist die Sache mit der Front aber keine einfache – eine klare Linie, die zwischen Freund und Feind, vorn und hinten, uns und den Anderen verliefe, ist nicht auszumachen. Einige schwergewichtige Begriffe hatte Aravena den teilnehmenden Teams zur Bearbeitung empfohlen, darunter Verkehr, Gesundheitswesen, Migration, Müll, Nachhaltigkeit, Wohnungsbau. Dass die Fragen wichtiger seien als die Antworten, hat er in einem Interview gesagt. Deshalb werden architektonische Strategien und städtebauliche Konzepte durch Rechercheprojekte ergänzt, zu den stärksten zählen der Beitrag „Let‘s talk about garbage“ oder der der Gruppe Forensic Architecture. „Let‘s talk about garbage“ der beiden Polen Hugon Kowalski und Marcin Szczelina lenkt den Blick auf das Müll-Receyling im Dharavi, einem Slum von Mumbai, das verknüpft ist mit teilweise illegalen Mülltransporten aus Europa. Forensic Architecture und Elyal Weizman zeigen, wie das Wissen von Architekten genutzt werden kann, um bei kriegerischen Handlungen herauszufinden, welche Waffen eingesetzt wurden, was tatsächlich geschah und wie die zerstörerische Wirkung auf Architektur gezielt politisch eingesetzt wird. Hier wird sichtbar gemacht, was in der auf unsicherer Quellenlage basierenden Berichterstattung oder den offiziellen Verlautbarungen verschwiegen wird.

Vor Ort, mit den Menschen

Auf eine andere Strategie des Sichtbarmachens setzt die Gruppe EPM. Die Wasserzisternen von Medellín lagen bislang aus Angst vor Anschlägen und Vergiftung in von der Umgebung isolierten Arealen der Stadt. Und sie waren kaum beleuchtet, was sie auch zu den gefährlichsten Orten der Stadt gemacht hat. Nun sind diese Zisternen in öffentliche Parks eingebunden, um sie weniger gefährlich und als für die Stadtgesellschaft wertvolle Orte sichtbar zu machen. Auch andere Beiträge beeindrucken: ob Müllkippen, die zu Landschaftsparks werden, ob ein Kriminalitätshotspot in Durban, der entschärft und den Bewohnern zurückgegeben werden kann, ob humanere Flüchtlingscamps, traditionelle Material- und Konstruktionsmethoden, die aktiviert werden, oder Flughäfen für Dronen, die beispielsweise Medikamente in infrastrukturell unzureichend angebundene Regionen bringen – es ist wahrlich beeindruckend, welche Vielfalt an Ideen ausgebreitet werden. Man erfährt, dass mit den Menschen zusammen auch mit wenig Geld viel erreicht werden kann, dass so nicht an ihren Bedürfnissen vorbei geplant wird, dass Architektur sich in ihrer Benutzung verändern und an ihr weitergebaut werden darf. Mit einer Lichtinstallation verweisen die Klimaingenieure von Transsolar aus Stuttgart auf die immaterialle Ebene von Nachhaltigkeit jenseits der Gebäudetechnik, die in einem projektbezogenen, lokalen Rechereche- und Aushandlungsprozess besteht. Die Architektursozietät BeL überträgt ihr Grundbau und Siedler-Konzept der Hamburger IBA auf den Städtebau und zeigt, wie peripher gelegene Nachkriegssiedlungen helfen können, aktuelle Wohnbauengpässe zu mildern.
Auch in den Länderpavillons setzt sich fort, was die Hauptausstellung zeigt. Man muss freilich viel Geduld und Zeit mitbringen, um die teilweise beeindruckenden Projektsammlungen aufnehmen zu können. Man wird belohnt mit vielen Beispielen der sensiblen Intervention, der wirkungsvollen Gemeinschaftsarbeit, die in Wert setzen, was in Zeiten des Turbokapitalismus unter die Räder zu kommen droht, mit Strategien, die nicht oder nicht allein der Kraft des architektonischen Projekts vertrauen.

Zurück in die Zukunft?

Zunächst befremdend mutet an, dass auch Luigi Snozzis in den 1978 aufgestellten Grundsätze einer den Ort respektierenden Architektur gezeigt werden, deren Anwendung durch die Bauten in Monte Carasso – überwiegend aus den 1980er Jahren – exemplifiziert werden. Es ist das deutlichste, aber bei weitem nicht einzige Beispiel, das auf die Aktualität von Ansätzen hinweist, die schon zwischen den 1950er und 1980er Jahren diskutiert wurden. Ob lokale Tradition, Beteiligungs- und Gemeinschaftskonzepte, die Qualitäten des Offenen und Unfertigen, die Hoffnung auf inkrementalistische Strategien, die Entdeckung einer Architektur ohne Architekten, eines sanften, ökologischen Bauens, ob Bernhard Rudofsky, die Smithsons, ob John Brinckerhoff Jackson: Viele Denkweisen scheinen nur wiederaktiviert zu werden. Das macht stutzig. Was ist schiefgelaufen, dass wir als Lösungswege vorgeschlagen bekommen, was bereits einmal gedacht, experimentell erprobt und zur Diskussion gestellt worden war? War die durch die Postmoderne eingeleitete Bildmacht zu verführerisch, weil sie versprach, vermeintlich „eigentliche“, autonome Qualitäten von Architektur zu rehabilitieren? Sind den politischen und zivilgesellschaftlichen Partnern der Architekten die Qualitäten und Potenziale guter Gestaltung nicht ausreichend bewusst oder bewusst gemacht worden, die gerade dann zum Tragen kommen, wenn sie auf einer echten Partnerschaft beruhen? Haben sich die Architekten auch bei der Suche nach Alternativen erneut überschätzt und suchten nur andere Wege, mit denen sie hofften, Architektur könnte Probleme lösen, anstatt nur die Auswirkungen von Entwicklungen jenseits ihres Einflusses zu mildern? Wie, so fragt an sich am Ende, könnte die Emphase der Biennale weiter getragen werden, so dass sie auch dort ankommt, wo sie nicht bereits auf offene Türen stößt, gerade jetzt, wo autoritäre Tendenzen sich auszubreiten scheinen, das Diktat des globalen Finanzmarkts und die Macht großindustrieller Lobby ungebrochen wirken?

Aber Aravena wollte Fragen. Die, die unbeantwortet bleiben, müssen ernst genommen werden. So sehr diese Biennale Zeichen der Hoffnung sendet, so sehr brauchen die hier gezeigten Inspirationen die reflektierende Skepsis, um nicht als illusorische Hoffnungskometen zu verglühen. Am Ende der Eröffnungstage sind die Giardini voller Müll. Auf der Piazza San Marco bieten Händler Selfie-Sticks an. Rastlose Touristen mit Hartschalenrollkoffern hasten am Bahnhofsvorplatz am Gepäckträger und seiner Radkarre vorbei. Er wirbt vergeblich damit, nicht illegal, sondern für sein Angebot autorisiert zu sein. Die Frontlinien verlaufen nicht irgendwo draußen.


Die 15. Architektur-Biennale in Venedig ist bis zum 27. N0vember 2016 zu sehen.

Informationen und eine Pressespiegel zum Deutschen Pavillon "Making Heimat" sind auf den Seiten des Deutschen Architekturmuseums zu finden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christian Holl

Freier Autor, Kritiker und Kurator in den Bereichen Architektur, Architekturtheorie und Städtebau.

Christian Holl

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