Wege in der Moderne

Architektur Die italienisch-brasilianische Architektin Lina Bo Bardi wurde in den letzten Jahren immer populärer. Das ist kein Zufall. Ihr Werk hat uns etwas Wichtiges zu sagen.

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Casa de Vidro, São Paulo, mit Lina Bo Bardi, 1949-1951
Casa de Vidro, São Paulo, mit Lina Bo Bardi, 1949-1951

Foto: Francisco Albuquerque, 1951/ Arquivo ILBPMB

Ein Jubiläum ist nicht immer ein überzeugender Grund für Berichterstattung, Ausstellung oder Symposium. Manchmal steckt nur Fantasielosigkeit dahinter – nicht immer haben uns Gebäude auf einmal wieder etwas Bedeutendes mitzuteilen, nur weil ein Architekt einen runden Geburtstag feiert. Insofern ist es fast bedauerlich, dass der 100. Geburtstag von Lina Bo Bardi am 5. Dezember den Anlass für eine Retrospektive im Architekturmuseum der TU München liefert – Bardi hat so viel Wesentliches zum aktuellen Diskurs beizutragen, dass man eine Auseinandersetzung mit ihrem Werk nicht durch den runden Jahrestag rechtfertigen muss.

So ist auch nicht zufällig die Aufmerksamkeit für die italienisch-brasilianische Architektin bereits in den letzen Jahren kontinuierlich gestiegen, zuletzt hatte eine Wanderausstellung aus London von 2012 unter anderem in Wien und Berlin Station gemacht. Dass die Ausstellung in München die Auseinandersetzung Bardis mit dem Vernakulären und der Volkskultur, die in jener einen wichtigen Part eingenommen hat, kaum thematisiert, sollte man daher nicht als Versäumnis verstehen, sondern eher als Respekt zwischen Ausstellungsmachern würdigen.

Auf der Suche nach Vitalität

Die aktuellen Relevanz von Lina Bo Bardi ist eng mit ihrer Biographie verknüpft. 1914 in Rom geboren, wo sie auch studiert hatte, zog es sie zunächst nach Mailand, von wo aus sie 1946 nach Brasilien emigrierte, das bis zu ihrem Tod 1992 ihre Heimat bleiben sollte. In Brasilien fand sie ein Land, das „von volkstümlicher Vitalität nur so strotzt(e)“, wie sie im hervorragenden Katalog zitiert wird. Anstatt sich in Italien mit einer verängstigten, verunsicherten Gesellschaft auseinanderzusetzen und sich mit einem Bürgertum zu arrangieren, das sie als dekadent und korrupt empfand, wendete sie sich einem Land zu, das sich im Aufbruch befand.

Brasilien war für sie zunächst also auch eine Projektionsfläche für das, was sie in Europa vermisste. Dass es ihr gelang, ohne ihre Herkunft verleugnen zu müssen, einen alternativen Beitrag auf dem Weg in die Moderne zu leisten, wie es der Ausstellungstitel formuliert – alternativ auch zu dem, was etwa durch Costa oder Niemeyer geleistet worden war – stellt Fragen an den aktuellen Diskurs bei uns. Auch heute scheint es wieder attraktiver, nach den Möglichkeiten einer sinnstiftenden Architektur in Ländern zu suchen, deren Entwicklungsstand nicht dem Europas entspricht, das aber ein vitaleres, ein authentischeres Umfeld zu bieten verspricht. Das wirft nicht nur ein Licht darauf, wie wenig noch von der Gesellschaft des hochindustrialisierten Europas erwartet wird, sondern auch darauf, wie sehr wir hierzulande das Potenzial des Bauens als unmittelbarer Weltaneignung durch Bürokratie und Technisierung blockieren. Das Beispiel Lina Bo Bardis zeigt deutlich, wieviel mehr Kraft Architektur mit einfachsten Mitteln entfalten kann.

Architektur, die in der Nutzung zu sich findet

Das ist aber nicht alles. Genauer betrachtet zeigt ihr Werk, dass die Grabenkämpfe unseres Diskurses zwischen konservativer und progressiver Architekturhaltung Teil der Blockade von Potenzialen der Architektur sind. Denn weder lassen sich Bardis Arbeiten einer stilistischen Richtung zuordnen, noch hat sie das Bauen als Teil einer akademischen Auseinandersetzung mit einem architektonischen Thema verstanden – aber genau das öffnet der Architektur Möglichkeiten. Das Kunstmuseum in São Paulo (1978) ist eine kraftvolle Geste im Geiste brutalistischer Direktheit, bei der Casa Cirell (1958) oder der Capela Santa Maria dos Anjos (1978) nutzt sie regionale Materialien und greift auf traditionelle Typologien zurück, formuliert unbeeindruckt von knappen finanziellen Mitteln eine funktionstüchtige Architektur, ohne auf Ausdruck zu verzichten. Mit ihrem Beitrag zum Erhalt des historischen Zentrums von Salvador de Bahia (1986) zeigt sie einen gefühlvollen Umgang mit der Geschichte, ohne sie zu musealisieren.

Sie arbeitete dabei vor Ort, im direkten Austausch mit Handwerkern, Nutzern, Bauherren. Diese Kommunikation ist aber nicht nur eine, die auf den Bauprozess beschränkt bleibt. Und hierin liegt möglicherweise die drängendste Aktualität Bardis. Denn ohne dass sich das Haus unscheinbar machen und auf die Kraft der unverwechselbaren Erscheinung verzichten müsste, öffnet es sich der Aneignung, der Nutzung, konzipiert Bardi eine Architektur, die erst durch die Nutzung zu sich selbst findet. Jeder Streit darüber, ob Architektur überhaupt noch Kunst sein dürfe, wird damit vom Tisch gewischt.

Am deutlichsten lässt sich das wahrscheinlich an einem ihrer Hauptwerke, dem Kultur- und Freizeitzentrum SECS Pompeia illustrieren. Eine umgebaute, in wesentlichen Elementen aber in ihrer ursprünglichen Erscheinung belassene Fabrikhalle wird zu einem großen, offenen, öffentlichen Raum, der als Aufenthaltsraum zum Lesen wie zum Arbeiten genutzt wird, der ein Theater, Werkstätten, Bar, Restaurant und Ausstellungsflächen in einer großzügigen Gesamtkonzeption aufnimmt. Nur wenige Elemente verändern den Charakter hin zu einem öffentlichen Aufenthaltsraum. Hier wie in anderen Projekten führen die Spuren der Nutzer und der Nutzung nicht zu einer Qualitätsminderung, sondern intensivieren und qualifizieren den Ort erst. Ohne Zweifel kommen Bardi hier die Erfahrungen zugute, die sie in ihrer Arbeit als Kuratorin gesammelt hatte.

Das benachbarte, mehrgeschossige Sportgebäude mit den charakteristischen, roten Öffnungen in der Sichtbetonfassade als zweiter Bauabschnitt setzt den Kontrapunkt des Neuen. Umkleideräume und kleinere Übungsräume sind in einem separierten Turm untergebracht, der mit den Sporthallen mit freien Gangways verbunden ist. Diese Brücken sind darüberhinaus auch Treffpunkte und Aufenthaltsort.

Zuviel Absicht

Die Ausstellung konzentriert sich auf die Darstellung der Projekte: in Zeichnungen, Modellen Fotos des historischen wie aktuellen Zustands. Ohne Zweifel sind die vielen Originalzeichnungen das große Pfund, mit dem gewuchert wird. Durch eine atmosphärische Toninstallationen, Kunstwerke von Veronika Kellndorfer und Filme mit Interviews erweitert, bietet die Präsentation einen umfangreichen Einblick in die Arbeit Bardis. Etwas bemüht wirkt die Konzeption darin, die Unmittelbarkeit der Architektur Bardis durch Ausstellungswände und Sockel aus rohen Ytong-Steinen zu vermitteln, die Beschriftung von Hand durch Meisterschüler einer Handwerksschule, in der teilweise auch einzelne Begriffe hervorgehoben werden, ist nicht unproblematisch. Sie täuscht eine Form der Authentizität vor, die der Kontext der Ausstellung schon von vornherein ausschließt. Zu offensichtlich wird darauf verwiesen, dass konventionelle Beschriftungen durch ihren Gestus verhindern können, dass der Leser den Text direkt auf sich bezieht. Aber hier schlägt das Pendel ins andere Extrem: Die Betonung der Subjektivität entlarvt sie als Surrogat. Es entsteht der Kitsch, den Bardi so sicher vermieden hat. Immerhin wird so zuletzt sichtbar, was eine weitere Qualität Bardis war: der Verzicht auf Sentimentaliät.

Lina Bo Bardi 100. Brasiliens alternativer Weg in die Moderne. Architekturmuseum der TU München, bis zum 22. Februar 2015.

www.architekturmuseum.de
Der Katalog ist bei Hatje Cantz erschienen und kostet 49,80 Euro.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christian Holl

Freier Autor, Kritiker und Kurator in den Bereichen Architektur, Architekturtheorie und Städtebau.

Christian Holl

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