Die Tanten

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Die erste Erinnerung ist ein Bild: Zwei riesige Pelzmützen stehen im Dorf meiner Kindheit. Darunter dicke lächelnde Frauengesichter. Die Kragen ihrer Mäntel sind hoch geschlagen. Wie zwei Außerirdische sehen sie aus, die sich verirrt hatten und nun zufällig vor meinen Augen gelandet waren. Für mich waren sie nie jünger und würden sie nie älter sein als auf diesem Foto.

Es stellte sich heraus, dass die Fremden "die Tanten" hießen, obwohl es gar nicht unsere Tanten waren. Sie hatten mit einem voll gepackten Auto die dunkle Grenze überquert, um einer unbekannten Familie zu helfen. Aus den mitgebrachten Tüten und Kisten kamen Puppen, Bausteine, Autos, Holztiere und alles mögliche andere hervor. Meine Schwester und ich nahmen all dies spielend in Besitz. Erstaunlicherweise freuten sich die Tanten darüber genauso wie wir. Auf dem Boden unseres Zimmers bauten sie mit uns fantasievolle Lego-Städte und waren hingerissen, wenn etwas besonders gut gelungen war. Stundenlang konnten sie mit uns Verstecken spielen und dabei vor Vergnügen quieken, wenn sie den geheimen Ort aufgespürt hatten. Sie hielten erst dann inne, wenn ihre Gesichter eine dunkelrote Farbe angenommen hatten und sie nach Luft ringen mussten. Erst später verstand ich, dass für die beiden Grundschullehrerinnen, die sie waren, wohl Theorie und Praxis untrennbar zusammen gehörten.

Die Tanten konnten auch ganz anders sein. Einmal brachten sie ein Murmelspiel mit, bei dem man verschiedene Bauteile in- und übereinander stecken musste, damit die Murmeln über mehrere Etagen ihre Bahn kullern konnten. Die Tanten bauten, eine Vorführung nach der anderen misslang, weil sich die Kugeln stets im freien Fall dem Boden zu bewegten. Die eine Tante neckte die andere. Plötzlich flogen mehrere Murmeln durch die Luft und knallten gegen den Kopf der einen. Ein Schrei, beide verknäulten sich kurz ineinander. Meine Schwester und ich heulten. Sie ließen sich wieder los und gingen schmollend auseinander. Unsere Eltern standen lächelnd dabei.

In ihrem Alltag waren die Tanten oft allein. Ihre Männer waren im Krieg geblieben. Sie sahen traurig aus, wenn sie davon erzählten. Kinder hatten die Tanten auch nicht, dafür besuchten sie uns mit ihren vier Teddybär-Söhnen. Sie hießen Hopser, Zappel, Wuschel und Toldy. Ich hatte mich in Toldy verliebt, der sich von seinen Brüdern dadurch unterschied, dass er einen rot gestrickten Anzug trug. Er schien mir neben den anderen so sensibel und schutzbedürftig. Die Tanten mussten etwas gemerkt haben. Ich bekam ihn geschenkt, und meine Freude war unbeschreiblich. Fortan war Toldy ein DDR-Bär.

Dank seiner extravaganten Mützen und großgeblümten Kleider war unser Besuch bald auch im ganzen Ort bekannt. "Eure Tanten gehen wieder durchs Dorf!", hieß es. Dabei gruben sich ihnen allerdings tiefe Falten in die Stirnen. Ob denn hier alle jeden Tag Kohl und alte Kartoffeln essen müssten, fragten sie besorgt, nachdem sie das Angebot unseres Dorf-Konsum inspiziert hatten. Unser schönes Haus gefiel ihnen auch nicht so richtig. Für sie pfiff der Wind durch die Ritzen, waren unsere Öfen altersschwach, und die Dielen krachten unter ihren Füßen. Sie schüttelten ihre Köpfe. So etwas hatten sie noch nicht gesehen! Dagegen setzten sie rosa, dunkel- und hellblaue Teppichfliesen und Stoffe, die sie mitgebracht hatten, ein. Die Welt sollte so werden wie ihre Pullover: groß, bunt und glitzernd.

Eines Tages erreichte uns die bestürzende Nachricht: Die Tanten wollten uns nie mehr besuchen. Das Leben der Teddys war in Gefahr! Bei ihrer letzten Reise hatte man sie verdächtigt, im Innenleben ihrer Bärenkinder Rauschgift über die Grenze zu schmuggeln. Die Grenzsoldaten drohten, die Teddys aufzuschlitzen! Die schönen Sachen kamen jetzt nur noch mit der Post.

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