„99 Prozent können irren“

Interview Der Ökonom Max Roser zeigt mit seinem Blog „Our World in Data“ und bei Twitter, wie fortschrittlich wir sind
Ausgabe 51/2016
„Man muss hinterfragen, woher die Daten kommen, welche Auswahl getroffen wurde“
„Man muss hinterfragen, woher die Daten kommen, welche Auswahl getroffen wurde“

Foto: Mark Peterson/Corbis/Getty Images

Seit zwei Jahren folge ich Max Roser auf Twitter. Mehrmals täglich postet der Ökonom Schaubilder, die weltweite Fortschritte belegen. Gut 74.000 Nutzer interessieren sich außer mir dafür. Nebenbei betreibt Roser den Blog Our World in Data, auf dem er auch seine Quellen und Methoden anschaulich beschreibt.

Die Welt, wie sie uns aus Rosers Daten entgegentritt, ist ein sehr viel hoffnungsvollerer Ort, als das Angst-Jahr 2016 glauben macht. Um den Diskurs ein wenig auszunüchtern, rufe ich also in Oxford an, wo der gebürtige Kirchheimbolander am Institute for New Economic Thinking forscht.

der Freitag: Herr Roser, nur vier Prozent der Deutschen glauben, die Welt würde sich zum Besseren entwickeln. Können 96 Prozent irren?

Max Roser: Einer aktuellen Oxfam-Studie zufolge überschätzen sogar 99 Prozent der Deutschen die weltweite Armut. Die psychologische Forschung hat in den vergangenen 20, 30 Jahren gezeigt, dass wir keine guten intuitiven Statistiker sind. Die globale Gesundheit und Bildung sind heute besser als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte. Die extreme Armut hat in den vergangenen Jahrzehnten so schnell abgenommen wie nie zuvor, sie ist von 44 Prozent im Jahr 1981 auf unter zehn Prozent gefallen.

Der Linguist und Kognitionspsychologe Steven Pinker kritisiert, wann immer Menschen Risiken abwägen und Aussagen über die Zukunft treffen, vernebelten ihnen Stereotype, einprägsame Ereignisse, lebhafte Szenarien und moralistische Narrative den Blick.

Leider ist es weit verbreitet, dass Menschen glauben, sie könnten allein durch Nachrichten oder das eigene Leben ein Bild davon bekommen, wie die Gesellschaft sich verändert. Die Welt ist dafür viel zu groß. Wir wissen etwas besser über 50 bis 100 Menschen Bescheid, die uns nahestehen und wir treffen vielleicht drei-, vier- oder fünftausend, mit denen wir etwas länger reden. Aber das gibt uns keine Idee davon, wie sich die Welt im Großen verändert. Der einzige Weg ist da gute empirische Forschung.

Zur Person

Max Roser, 33, hat Philosophie, Wirtschafts- und Geowissenschaften in Innsbruck studiert. Seit 2012 arbeitet er an der University of Oxford. Er twittert als @MaxCRoser

Winston Churchill tönte bekanntlich, er traue keiner Statistik, die er nicht selbst gefälscht habe. Wie unterscheidet man saubere von manipulierten oder stümperhaften Statistiken?

Das ist nicht anders als im qualitativen Diskurs. Man muss hinterfragen, woher die Daten kommen, welche Auswahl getroffen wurde und was miteinander in Verbindung gesetzt wird. Letztlich muss ein Großteil der Bevölkerung da noch sehr viel lernen. In den meisten Fällen kommt es darauf an, zu sehen, dass empirische Daten nicht perfekt sind und keine einfachen und klaren Antworten geben. Aber selbst wenn Daten mit Messfehlern behaftet sind, können sie uns etwas darüber sagen, wie die Welt aussieht.

Inwiefern?

Wenn wir über Ungleichheit sprechen, hat Thomas Piketty sicher die entscheidende Arbeit vorgelegt, durch die wir ein sehr viel langfristigeres Bild davon haben, wie Ungleichheit sich in den reichen Ländern entwickelt hat. Vor Piketty waren Umfragedaten die Hauptquelle, er ist zurück zu den Einkommensteuerdaten gegangen. Ein großes Problem bei Steuerdaten ist aber, dass Steuern hinterzogen werden und diese Angaben fehlen. Dennoch können wir aus diesen Daten etwas darüber lernen, wie die Welt sich verändert. Wir müssten schon extreme Annahmen über die Zunahme der Steuerhinterziehung treffen, um zu glauben, dass sich das Vermögen nicht in den Händen einiger weniger konzentriert.

Gerade wurde „postfaktisch“ zum Wort des Jahres gewählt.

Es ist nicht so, dass es irgendwann in der Weltgeschichte einen Zeitpunkt gegeben hätte, an dem die Menschen besser informiert worden wären.

Neulich baten Sie Ihre Follower um Unterstützung für „Our World in Data“, „damit die Welt etwas weniger postfaktisch wird“.

Ich muss zugeben, auch ich war überrascht, mit wie vielen unverhohlenen Lügen die Kampagnen für den Brexit und von Trump Erfolg hatten. Aber wenn Sie die Deutschen im prä-postfaktischen Zeitalter gefragt haben, wie sich die Armut auf der Welt verteilt, wussten sie es ebenso wenig.

Eingebetteter MedieninhaltGezielte Desinformationskampagnen werden auch im Bundestagswahlkampf 2017 eine Rolle spielen. Wie lässt sich dagegen anarbeiten?

Eine der besten Anwendungen unserer Arbeit ist, wenn Journalisten aktuelle Ereignisse in den historischen Kontext einordnen, den wir schaffen. Wenn Journalisten nur über politische Skandale und Fehler in Wirtschaft und Wissenschaft berichten, sollten wir uns nicht wundern, wenn die politische Rechte diesen extrem einseitigen Fokus auf alles Negative ausnutzt. Die empirischen Belege für die Erfolge von Demokratien sind der Bevölkerung zu wenig bekannt.

Sie kritisieren auch die Wissenskluft zwischen Akademikern und der breiten Bevölkerung.

Die Forschung kümmert sich zu wenig darum, die neusten Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Der linksliberale Diskurs an den Universitäten hat in der Gesellschaft nicht die nötige Unterstützung. Ich denke, dass Immigration die beste Möglichkeit ist, um für bessere Lebensbedingungen zu sorgen. Aber ich sehe eben auch, dass viele Menschen die Immigranten nicht in unseren Ländern sehen wollen. Es bringt nichts, Politik für Menschen zu machen, die wir uns wünschen.

Obama hat nach der Wahl von Donald Trump gesagt, die Geschichte laufe manchmal Zickzack. Bestätigen das Ihre Daten?

Manchmal macht man einen Sprung nach vorne, der vor kurzem unerreichbar schien, dann wieder erleidet man Rückschritte, wo man sich fast am Ziel sah. Über ein Jahr gab es keinen Polio-Fall in Afrika, nun treten wieder welche in Nigeria auf. Heißt, die Krankheit ist nicht ausgerottet. So etwas gibt es bei jeder Entwicklung.

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Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin Kultur

Christine Käppeler

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