Alte Schwedin!

Boom-Bremse Schallplatten sind wieder angesagt. Es gibt nur ein Problem: Die Maschine, die sie produzieren kann, lief zuletzt 1984 in Sundbyberg vom Band
Ausgabe 26/2015

Im Pförtnerhaus brennt kein Licht. Es steht auch kein Stuhl darin, auf dem einer sitzen könnte, der Besucher empfängt. Die Schranke ist oben, der Hof dahinter leer. Nichts rührt sich, abgesehen von der Dampfwolke, die sich aus einem Rohr in Leipzigs Abendhimmel drückt. Sie ist der einzige Hinweis auf die fünf Maschinen, die in der gekachelten Werkhalle im Hinterhof eine Million Schallplatten im Jahr pressen.

Drinnen wird eine dieser Maschinen gerade von schwarzem auf blaues Vinyl umgestellt. Toolex Alpha heißen die Pressautomaten, zuletzt wurden sie in den 80ern hergestellt und das sieht man ihnen auch an: Klobig und ölverschmiert stehen sie da, der lindgrüne Lack ist schon etwas angeschabt, ihre Gelenke lärmen. Ein Schlauch saugt kleine blaue Kügelchen in die Maschine, die zu einer zähflüssigen Masse geschmolzen werden. Mit einem Plopp spuckt sie etwas aus, das sie hier den Vinylkuchen nennen. In anderen Werken sagen sie Puck, das entspricht der Form recht genau, nur dass in der Mitte schon das Loch der späteren Schallplatte ist. Der Puck landet auf einer metallenen Scheibe, die einem Plattenteller nicht unähnlich ist. Sie ist das Negativ der A-Seite. Die Tonrillen wurden zuvor in eine Lackfolie geschnitten, aus der mittels Elektrolyse dieses Werkzeug entstanden ist. Von oben kommt das Gegenstück für die B-Seite, dann hämmert die Maschine 100 Tonnen schwere und 130 Grad heiße Platten darauf. Fehlt nur noch der Randabschneider, der den Wulst rundum entfernt. 26 Sekunden dauert es, bis eine Schallplatte fertig ist.

2014 wurden in Deutschland 1,8 Millionen Schallplatten verkauft. Gegenüber dem Vorjahr war das eine Steigerung um 27 Prozent. In der Tabelle des Bundesverbands der Musikindustrie, die alle physischen Tonträger auflistet – CDs, Musikkassetten, DVDs –, ist Vinyl nun das einzige Medium, hinter dem ein grüner Pfeil nach oben zeigt. Ein Blick auf diese Tabelle ist allerdings auch hilfreich, um den viel beschworenen Vinyl-Hype in Relation zu setzen: Für die CD geht es zwar seit Jahren abwärts, verkauft wurden 2014 aber immer noch 87 Millionen Exemplare. Die Schallplatte ist also eher der FC St. Pauli unter den Tonträgern, der gerade so den Klassenerhalt in der 2. Liga schafft. Ähnlich groß sind aber auch die Hingabe der Fans und die Strahlkraft der schwarzen Scheibe. „Vinyl bedeutet eher kulturelles Kapital als bare Münze“, sagt etwa Maurice Summen vom Berliner Musiklabel Staatsakt, zu dessen Künstlern Rocko Schamoni, Bonaparte und Die Sterne zählen. Das Label veröffentlicht alle Alben seit 2008 auch als LP. Manche, die Sampler des Golden Pudel Club aus Hamburg zum Beispiel, erscheinen gar nicht auf CD. „Die Opinionleader“, sagt Summen, „hören bevorzugt Vinyl.“

Der Ökonom Max Roser von der Universität Oxford hat kürzlich für die USA ein Säulendiagramm aus den Verkaufszahlen seit 1973 erstellt. Es sieht aus wie der Querschnitt einer Skisprungschanze, an deren Ende ein paar Tannenwedel trotzig in die Luft ragen. Von gut 500 Millionen Dollar in den 70ern hat sich der Umsatz bis 1985 halbiert. Von dort geht es nur noch bergab, 1990 sind es gerade einmal noch 30 Millionen, 2006 ist die Talsohle erreicht. Aber dann kommen die Tannenwedel, der vorläufig letzte erreicht 15 Millionen Dollar. Roser hat sein Schaubild mit dem höhnischen Kommentar „So sieht das Vinyl-‚Comeback‘ wirklich aus …“ bei Twitter gepostet.

Aber wie aussagekräftig ist es? 1973 ist Vinyl im Grunde alternativlos. Der erste Knick zeichnet sich 1980 ab, also in jenem Jahr, in dem der britische Tonträgerverband die Kampagne Home taping is killing music gegen die Mutter aller Raubkopien startet, das Mixtape. Die Industrie bringt die Schallplatte dann allerdings zehn Jahre später selbst ins Grab. Mit Einführung der CD schließen die großen Plattenfirmen ihre Presswerke, der Kunde soll den Umstieg auf den futuristisch glänzenden Tonträger mitmachen und am besten seine Plattensammlung gleich noch einmal auf CD nachkaufen. Wieder zehn Jahre später führt Apple den iPod ein, 2006 wird der Streamingdienst Spotify gelauncht. So gesehen erscheint es nicht mehr so lächerlich, von einem Comeback des Vinyls seit 2006 zu sprechen. Es ist jetzt ein Luxusgut.

Gunnar Heuschkel, der Chef des Leipziger Presswerks Randmuzik, ist keiner, der große Worte macht. Er kommt erst ins Reden, als wir ihn auf der Tour durch den Betrieb an der Maschine für die Plattencover treffen. Durch den blauen Koloss rattern die Pappen eines Albums, das Heuschkel selbst in den 90ern unter dem Namen Lynx veröffentlichte. Zwei Leipziger DJs haben einen Track der alten Platte kürzlich in London aufgelegt, die Veranstaltung wurde im Internet gestreamt, prompt kamen Nachfragen. Nun wird nachgepresst, 500 Stück. Heuschkel ist gelernter Maschinenbauer, das Presswerk hat er in den 90ern mit Freunden aufgebaut. „Unsere erste Ausstattung“, erinnert er sich, „ist in den Nachwendeturbulenzen begründet.“ Jemand hatte gehört, dass in Bulgarien ein Kombinat abgewickelt wurde. Zwei Toolex-Alpha-Maschinen kauften sie dort. Den Rest, sagt er, trugen sie aus der ganzen Welt zusammen: „Das ist ja alles nicht frei verkäuflich.“ Bestes Beispiel ist der gut fünf Meter lange Apparat, der Heuschkels Pappen zu Plattencovern faltet. Gebaut in den 70ern, 2008 in einem englischen Betrieb ausrangiert. Wenn man von so etwas Wind bekommt, muss man schnell sein. Heuschkel setzte sich in den nächsten Easyjet-Flieger, zog sich auf der anderen Seite des Ärmelkanals seinen Blaumann über, demontierte das Teil und machte einen Container transportbereit. Ein Jahr dauerte es in Leipzig, bis er die Maschine zum Laufen brachte. Die Branche liebt solche Geschichten.

Seit etwa einem Jahr klagen die Plattenlabels, dass die Wartezeiten bei den Presswerken länger werden. Bei Randmuzik liegt sie aktuell bei zwei Monaten, seit Weihnachten werden keine Neukunden mehr angenommen. Um zu verstehen, warum auch die großen Presswerke ihren Output kaum noch steigern können, muss man Leipzig verlassen und nach Röbel an der Müritz in Meckelnburg-Vorpommern fahren. 5.000 Einwohner, am einen Ortsrand springt man in den See, am anderen stehen die grauen Hallen von Optimal Media. Neben Schallplatten werden hier CDs und DVDs und vor allem auch Drucksachen hergestellt.

Optimal ist neben GZ in Tschechien und Record Industry in den Niederlanden der größte Produzent in Europa. 14 Millionen Schallplatten waren es im vergangenen Jahr, in diesem sollen es 15 werden. „Dann ist das Ende der Fahnenstange erreicht“, sagt Andreas Kohl, der hier im Vertrieb tätig ist. Wir sind über zwei Stunden im Werk unterwegs, von der Galvanik, wo die Presswerkzeuge hergestellt werden, bis zum Versand, und mittendrin wird klar, warum mehr als 15 Millionen Stück im Jahr kaum geht: Sausend und ploppend verarbeitet auch hier die Toolex Alpha Vinylgranulat zu Tonträgern. Nur dass in Röbel 30 Maschinen im Vierschichtsystem arbeiten. Das Problem kann Kohl schnell benennen: „Es wird keine neuen Pressen geben. Und es gibt auch keine alten mehr. Außer irgendwo taucht ein Lager auf.“ Ab und an passiert das noch, letztes Jahr im Oktober wurde in Dublin eine Werkhalle entdeckt, die EMI 1982 geschlossen hatte. Großer Aufruhr in der Szene, und auch Kohl schaut jetzt wie ein Angler, der von einem Zweimeterhecht erzählt. Für die Röbeler fiel allerdings nichts ab: „Die haben die Planen von den Maschinen genommen, den Strom angeschlossen und pressen jetzt selbst.“

Die letzte Toolex Alpha lief 1984 in Schweden vom Band. Die Maschinen, die diese Maschinen herstellten, gibt es nicht mehr. Gleiches gilt für das einzige Konkurrenzprodukt aus den USA. Würde man heute eine neue Vinylpresse projektieren, unterläge die ganz anderen Normen. Man müsste wieder Maschinen bauen, um die neuen Maschinen zu bauen. Das, sagt Kohl, gibt der Markt nicht her. Er hat so seine Theorie, weshalb der Boom ohnehin nicht noch stärker werden wird: Ein guter Teil der Platten, die sie pressen, sind Katalogauswertungen. The Beatles in Mono zum Beispiel: 14 LPs mit allen Monoaufnahmen der Band, die Box kostete 377 Euro. Remastering heißt das Zauberwort: Die moderne Digitaltechnik wird genutzt, um aus den alten Aufnahmen klanglich mehr herauszuholen. Kraftwerks Autobahn erschien 2009 remastered, gerade eben das letzte der Alben von Led Zeppelin. Irgendwann, ist Kohl sich sicher, sind die Kataloge aber eben auch ausgewertet. Dann bleiben die Labels, die auch neue Alben auf Vinyl herausbringen.

Der Musiker Ted Gaier besitzt beide Ausgaben von Autobahn, die von 1974 und die von 2009. Er sagt: „Der Rerelease klingt so viel besser, technisch hat sich da viel getan. Für Soundfetischisten ist das ein Argument.“ Gaier hat 1987 in Hamburg das Label Buback mitgegründet, das nie aufgehört hat, die Alben seiner Bands auf Vinyl zu veröffentlichen. Als Ende der 80er die CD aufkam, nahm Gaiers Band Die Goldenen Zitronen ihr Album Porsche, Genscher, Hallo HSV noch einmal mit Störgeräuschen auf, eine Anti-CD, mit der sie das neue, vermeintlich überlegene Medium veralberten. Trotz des Warnstickers verkauften sie etwa 10.000 Stück. Gaier kennt so manche abenteuerliche Geschichte aus der Frühphase der Digitalisierung. Etwa, wie man sich 1994 auf der Musikmesse Popkomm die Zukunft des Plattenladens vorstellte: Der Kunde kommt rein, äußert seinen Musikwunsch, zehn Minuten später bekommt er eine fertig gebrannte CD in die Hand gedrückt. An Downloads dachte da noch keiner. Die jungen Leute, ist Ted Gaier überzeugt, laden die Sachen heute herunter oder sie kaufen Vinyl. CDs kaufen nur noch Menschen über 40, „deshalb landen Bands wie Metallica auf Platz eins der deutschen Charts“.

Der Leipziger Maler David Schnell ist 43 und auch einer, der sich früh entschieden hat, „dieses CD-Ding“ nicht mitzumachen: „Ich habe den Klangunterschied gehört und immer schon die Cover geliebt.“ Die CD sei eben „unauratisch“. Früher habe er sich sogar beim Malen im Atelier Platten aufgelegt, mit Gummihandschuhen: „Aber die Platten haben gelitten.“ Mit dem Künstler Sebastian Kretzschmar hat Schnell im vergangenen Jahr das Label NYT gegründet, sie veröffentlichen Schallplatten, die Gesamtkunstwerke sind. Die erste ist ein Doppelalbum der Musiker Webermichelson, dem eine Remixplatte beiliegt. Das blaue, aufwendig gestaltete Cover ist mit einer anthrazitfarbenen Schicht überzogen. Man kann sie abrubbeln oder zusehen, wie nach und nach erste Kratzer entstehen. Schnell und Kretzschmar haben das Album an manche Leute zweimal verkauft: „Eines zum Anhören und eines zum Aufheben.“ Sie haben es sogar Leuten verkauft, die gar keinen Plattenspieler besitzen: „Die wollen das nur als Objekt.“

Ein Exemplar liegt im Büro von Randmuzik. Falls einer wissen will, was mit ihren alten Maschinen so machbar ist. Für die Toolex Alpha haben sie inzwischen so oft Ersatzteile gebaut, dass unten in der gekachelten Werkstatt jetzt eine sechste Maschine steht. Sie ist mit der Toolex Alpha ganz klar verwandt, nur etwas moderner sieht sie aus: nicht lindgrün, sondern zart türkis, die Teile sind schlanker und kantiger. Ein Laie könnte sie auf den ersten Blick für ein medizinisches Gerät halten. Sie ist ein bisschen wie der Vinyl-Boom: Für Technikbegeisterte und Nostalgiker. Und sehr exklusiv.

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