Am kommenden Sonntag wird in Berlin die erste Retrospektive zu Christoph Schlingensief eröffnet. Im Frühjahr wandert die Ausstellung dann nach New York ins MoMA PS1. Klaus Biesenbach ist dort seit 1996 Kurator, seit vier Jahren leitet er das Haus.
Der Freitag: Herr Biesenbach, Sie haben Christoph Schlingensief bereits 1999 nach New York eingeladen. Was geschah dort?
Klaus Biesenbach: Er hatte 99 kleine Objekte dabei, die in einem Koffer Platz fanden. Sie hatten für ihn alle etwas mit Deutschland zu tun, ein Strafzettel über 99 Mark für Falschparken zum Beispiel. Mit diesem Koffer nahm er die Fähre zur Freiheitsstatue, und dort warf er ihn dann vom Schiff ins Wasser. Er trug chassidische, orthodoxe Schläfenlocken, einen Hut und einen schwarz-rot-goldenen Schal. Ansonsten war er ganz in Schwarz gekleidet. Vor der Freiheitsstatue hat er, Willy Brandt imitierend, kurz gekniet und dann seine Locken dort abgelegt. Der Kniefall vor Amerika war für ihn natürlich eine interessante Initiation in dieses Land.
Was hat Schlingensief an den USA gereizt?
Sowohl New York als auch der Kunstkontext. Das war beides für ihn Neuland. Anfang der neunziger Jahre hat er ausschließlich Filme gemacht. Dann denkt er, er kann keine mehr machen, weil ihm keiner mehr Geld gibt. Schließlich wird er vom Theater eingeladen. In diesen zwei Bereichen ist er nun erfolgreich zu Hause, als ich ihm 1995 das erste Mal angeboten habe, etwas im Kontext der bildenden Kunst zu machen. Er war damals sehr erstaunt, und ich erinnere mich, dass es auch an der Volksbühne Überraschung hervorgerufen hat, als ich ihn besuchte. Erst über die Jahre ist er dann durch seine Aktionen und Performances, durch die Documenta 1997 und die Biennale 2003 mit Kunst identifiziert worden, und auch er selbst hat sich damit dann zunehmend identifiziert.
Als Sie ihn 1997 zur Documenta nach Kassel einluden, wurde er dort verhaftet, weil er gefordert hatte: „Tötet Helmut Kohl!“
Nach dieser Aktion in Kassel dachte ich, dass wir in New York vermutlich nicht nur verhaftet, sondern beide auch ausgewiesen werden. Wir haben es dann so gehandhabt, dass sowohl echte als auch gestellte Fernsehteams mit uns auf die Fähre gegangen sind, mit Beleuchtung, Filmklappe und allen Schikanen. Die Aktion war also nur geschützt durch die Omnipräsenz von Öffentlichkeit und Kameras.
Offensichtlich mit Erfolg.
Durch den Pressetross hat sich keiner getraut, das zu stoppen. Christoph hat ja Dinge oft geschützt oder aber auch virulent gemacht, indem er sie öffentlich machte. Die Aktion Bitte liebt Österreich in Wien war ja nur so subversiv, weil sie so öffentlich war. Ich finde Schlingensiefs Aktionen, die im Stadtraum stattfanden, ungeschützt vom Museumsraum, ungeschützt von der Theaterbühne und ungeschützt vom institutionellen Rahmen, extrem wichtig für die USA.
Warum gerade dort?
In den USA findet im Augenblick eine extreme Überlagerung von Kunstmarkt und Kunst statt. Christoph Schlingensief ist natürlich jemand, der sich vollkommen davon befreit hat, der vollkommen jenseits des Marktes war. Es geht hier nicht um Jeff-Koons-Skulpturen für 54 Millionen Dollar. Es geht hier um einen erweiterten Kunstbegriff, der eine gesellschaftliche Relevanz hat. Dass Kunst eine gesellschaftliche Verantwortung hat, einen ganz anderen Gegenentwurf liefern muss als nur wertvolle, glitzernde Objekte – das ist etwas, das Christoph in den USA hoffentlich noch mal ins Bewusstsein bringt.
Werden Sie in New York die gleichen Arbeiten wie in Berlin zeigen?
Das kann ich gar nicht. Viele Arbeiten von Christoph Schlingensief sind zum Beispiel sprachlich kodiert. Nehmen Sie Scheitern als Chance, da spielt eine wichtige Rolle, dass Scheitern und Chance sich ähnlich anhören. Oder die Aktion 18. Niemand weiß in den USA, wer Möllemann ist oder auch nur, wofür die FPD steht und was deren geschichtlicher Hintergrund ist. Das ist ein lokaler, zeitlich begrenzter Kontext. Anders verhält es sich mit einem Film wie African Twin Towers. Namibia hat als ehemals deutsche Kolonie zwar auch für die Deutschen einen ganz anderen historischer Hintergrund. Ich denke aber, dass jedes Land, das postkoloniale Verbindungen zu Afrika hat, das versteht.
Mit seiner Kunst hat sich Schlingensief immer auch an Deutschland abgearbeitet. Wie lässt sich das vermitteln?
Ich glaube, dass etwas wie die Deutschlandtrilogie funktioniert, weil er mit Filmen wie Das deutsche Kettensägenmassaker und Hundert Jahre Adolf Hitler letztendlich eine ganz eigene Form gefunden hat. Man weiß in den USA genug über deutsche Geschichte, sodass die Filme sicher dechiffrierbar sind.
Als er in Bayreuth den „Parsifal“ inszeniert hat, stand im „New Yorker“ erklärend: „Schlingensief is what the Germans call an Aktionskünstler.“ Kennt man das in der Form in den USA nicht?
Natürlich, aber die Amerikaner lieben den Klang solcher Wörter wie Gesamtkunstwerk oder auch Aktionskünstler. Mir sagen die Leute so etwas ständig, weil sie stolz darauf sind, so ein deutsches Kunstwort sagen zu können. Allan Kaprow und Abbie Hoffman sind zum Beispiel US-Künstler, die Schlingensief beeinflusst haben. Abbie Hoffman ist als politischer Aktionskünstler in den USA richtig kriminalisiert worden. Kunst hat dort nicht so eine Lobby.
Woher kommt das?
Es gibt dort nicht diese Durchsetzung von Kunst in der Gesellschaft. Ein amerikanischer Politiker kann fast nicht in ein Museum gehen, denn da könnte etwas sein, das ihm die Wählerschaft in Texas versaut, weil die Leute dort Kunst noch gar nicht buchstabieren können.
Das gilt auch für einen wie Barack Obama?
Absolut. Wir sind in Deutschland gewohnt, dass höchste inhaltliche Debatten über Kunst in einem derartig öffentlichen Raum stattfinden, ohne dass sie ihre Trennschärfe verlieren. Das ist ein ungeheures Privileg.
Gab es seit Schlingensiefs Tod Momente, in denen Sie dachten, jetzt wäre eine künstlerische Intervention von ihm gefordert?
Ja. Das hatte ich sehr häufig. Aber ich will das nicht konkret machen, weil ihn das Vereinnahmen würde.
Klaus Biesenbach wurde 1966 in Kürten geboren. 1990 war er Mitbegründer der Kunst-Werke in Berlin. Er ist Kurator am MoMA in New York und Direktor des experimentelleren MoMA PS 1. Mit Susanne Pfeffer und Anna-Catharina Gebbers hat er die Ausstellung Christoph Schlingensief kuratiert
What the Germans call Aktionskünstler
Christoph Maria Schlingensief wurde 1960 in Oberhausen als Sohn eines Apothekers geboren. Die Parallele zwischen seiner Aktionskunst und dem Beruf des Vaters beschrieb er später einmal so: Beide verabreichten sie Gift in kleinen Dosen, um einen kranken Organismus zu kurieren.
Mit dem Film Menu Total wird er 1986 zur Berlinale eingeladen, wo er nachhaltig verstört. Manche lachen sich aber auch schlapp, unter ihnen Udo Kier. Mit Kier und Tilda Swinton dreht er umgehend Egomania – Insel ohne Hoffnung (1986). Ähnlich schnell reagiert er auf die Wiedervereinigung: 1990 kommt Das deutsche Kettensägenmassaker („Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“) in die Kinos. Seinen Aktionsradius weitet er auf das Theater, insbesondere die Berliner Volksbühne aus sowie das Fernsehen.
Im Wahlkampf 1998/99 tritt er mit der Partei Chance 2000 an. Als in Österreich die rechtsextreme FPÖ mit 26,9 Prozent Regierungspartei wird, startet er die Aktion Bitte liebt Österreich!. Zwölf Asylbewerber werden im Stil der TV-Show Big Brother in Containern untergebracht und per Telefon-entscheid abgeschoben. 2002 reagiert er mit der Aktion 18 auf antisemitische Äußerungen des FDP-Politikers Jürgen Möllemann.
2004 inszeniert er in Bayreuth den Parsifal. 2008 wird bei ihm Krebs diagnostiziert. Sein Interesse richtet sich fortan auf Afrika. In Burkina Faso beginnt er Pläne für ein Operndorf zu realisieren.
Christoph Schlingensief stirbt am 21. August 2010 in Berlin. Posthum ist ihm der deutsche Pavillon der Biennale in Venedig 2011 gewidmet.
Die Ausstellung Christoph Schlingensief ist ab dem 1. Dezember 2013 in den Kunst-Werken in Berlin zu sehen. Ab März 2014 gastiert die Retrospektive im MoMA PS1 in New York.
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