Der erste Artikel, der im Freitag 2009 aus dem Guardian erschien, war ein Porträt der Schauspielerin Tilda Swinton. In der aktuellen Ausgabe ist es Glenn Close. Dazwischen ist einiges passiert. Für manche Geschichten haben wir die Nacht durchübersetzt und den Druck der Titelgeschichte verschoben. Bei einigen Autoren fühlt es sich so an, als kennten wir uns inzwischen persönlich, weil wir so viele Artikel in den zehn Jahren von ihnen gelesen, für außergewöhnlich befunden und publiziert haben. Ein kurzer Abriss der wichtigsten.
Cablegate
Das große Depeschenleck? Als wir in der Nacht zum 29. November 2010 die ersten Texte des Guardian über die enthüllten Botschaftsdepeschen von Wikileaks bekommen, stehen wir vor der Herausforderung, neue Begriffe schnellstmöglich und halbwegs elegant ins Deutsche zu übertragen. Heute kann man getrost von einem Daten-Leak schreiben, und jeder versteht, was gemeint ist. Auch, was ein Whistleblower ist, muss keinem mehr erklärt werden. Der damalige Whistleblower hieß Bradley (heute Chelsea) Manning und hatte Wikileaks 251.000 Dokumente zugespielt, es handelte sich um die Kommunikation zwischen US-amerikanischen Botschaften in aller Welt und dem US-Außenministerium seit 1966. Der Guardian gehörte zu den internationalen Partnern, die Wikileaks ausgewählt hatte, um den riesigen Datensatz filtern zu können und nach journalistischen Kriterien aufzubereiten. Aus den Depeschen wurde unter anderem deutlich, dass die USA auch gegen die Spitzen der UN geheimdienstlich vorgehen, insbesondere gegen die Vertreter der ständigen Mitglieder im Weltsicherheitsrat. Vier Wochen lang veröffentlichte der Guardian täglich mehrere Artikel, die sich auf die Daten aus Cablegate stützten.
In der Kommunikation mit dem Guardian allerdings unterläuft Wikileaks ein Fehler: Die verschlüsselte Datei, in der die Dokumente abgelegt wurden, ist keine temporäre Datei, und auch das Passwort, das Guardian-Journalist David Leigh von Julian Assange bekommt, behält seine Gültigkeit. Leigh jedoch, überzeugt vom Gegenteil, veröffentlicht es 2011 in seinem Buch Inside Julian Assange’s War on Secrecy.
Es ist dann der Freitag, dem über Assanges ehemaligen Partner Daniel Domscheidt-Berg diese Information zugespielt wird. Leck bei Wikileaks heißt die Titelgeschichte des damaligen Freitag-Redakteurs Steffen Kraft, die daraufhin erscheint.
NSA, GCHQ und PRISM
Im Juni 2013 veröffentlicht Glenn Greenwald im Guardian die Informationen, die er von Edward Snowden über die Spähprogramme der NSA und des britischen Geheimdienstes GCHQ erhalten hat. Die Geschichte ist, auch durch Laura Poitras Film Citizenfour, so bekannt, dass sie hier nicht noch einmal aufgerollt werden soll. Weniger präsent haben viele sicherlich das Nachspiel, das die Geschichte für den Guardian hatte. Am 20. Juli 2013 sehen sich Mitarbeiter im Untergeschoss des Verlagsgebäudes gezwungen, die Festplatten und Memorychips zu zerstören, auf denen sich die verschlüsselten Daten von Edward Snowden befinden. Der damalige Chefredakteur Alan Rusbridger hat die Behörden vorab über die Sinnlosigkeit dieses Akts informiert, da weltweit mehrere Kopie existierten. Der Auftritt konnte als Einschüchterungsversuch verstanden werden. Der Guardian nimmt ihn eher als Ansporn, um weitere Geschichten über die Abhörmethoden des GCHQ zu veröffentlichen. Am 3. Dezember 2013 muss Alan Rusbridger sich vor einem parlamentarischen Kontrollausschuss erklären. „Es war kein Prozess, aber es fühlte sich wie einer an“, erinnert er sich in seinem Buch Breaking News. The Remaking of Journalism and Why it Matters Now (Canongate 2018). Im Nebenzimmer warten zwei hochrangige Polizeibeamte, die darüber entscheiden sollen, ob Rusbridger angeklagt werden würde. In Großbritannien, wo die Pressefreiheit seit dem 17. Jahrhundert verbürgt ist, erscheint das wie ein Fanal. Zu einer Anklage kommt es jedoch nicht.
The Long Read
2014 führt der Guardian ein neues Format ein, das vielen anachronistisch anmutet: The Long Read heißt es, ein dreiseitiges Lesestück in der Zeitung, für die Online-Lektüre werden rund 15 Minuten veranschlagt. Drei solcher Texte veröffentlicht der Guardian fortan pro Woche, jeweils dienstags, donnerstags und freitags. Ein Gegenentwurf auch zum Clickbaiting mit rasch zusammenkopierten Artikeln. Jonathan Shainin, einer der drei Ressortleiter, beschreibt den Prozess in einem Artikel so: Am Anfang steht ein Pitch. Jede Woche gehen rund 50 Vorschläge bei der Redaktion ein, Ende der Woche wird entschieden, welche Ideen in Auftrag gegeben werden. Rund 25 Geschichten werden in der Regel parallel redigiert, etwa 50 werden unterdessen recherchiert und aufgeschrieben. Im Freitag haben wir diese Artikel anfangs in der Beilage Robinson veröffentlicht, seit knapp einem Jahr heißen sie auch bei uns The Guardian Long Read. Einige veröffentlichen wir nur online. Zum Beispiel: „Die Idee, die die Welt verschlingt“, über die Geschichte des Neoliberalismus. Auch bei uns gab es – wie ursprünglich beim Guardian – Vorbehalte, ob digitale Leser sich Zeit für so etwas nehmen würden. Der Long Read über die Ursprünge des Mikroplastiks war bei uns dann der meistgeklickte Text 2018.
Cambridge Analytica
Carole Cadwalladr schreibt für den Guardian schon länger über Tech-Themen, als wir mit ihr kooperieren. Aber der große Scoop gelingt ihr im März vergangenen Jahres mit ihren Recherchen über Cambridge Analytica, die Firma, die Steve Bannon dabei half, private Informationen von Facebook-Nutzern zu sammeln und diese gezielt mit Wahlwerbung zu manipulieren. Und wie schlecht Facebook diese Daten schützte. Im Freitag erschien die Geschichte dann unter dem Titel „Status: ausgespäht“.
Aber auch ein Körnchen britischer Humor schafft es ab und zu ins Blatt: Ich empfehle die Geschichte über den Künstler Mr. Bingo, der Leuten auf Bestellung Postkarten zeichnet und schickt, mit denen er sie gezielt beschimpft (der Freitag 32/2015)
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.