Es ist schon spät, als Wolfgang Tillmans diesen Satz sagt, den man von ihm wohl als letztem erwartet hätte: „Ich will die Mitte cool machen.“ Wir sitzen im dritten Zimmer seiner Galerie Between Bridges in Schöneberg. Während des Gesprächs wird Tillmans immer wieder die Tür zum Flur aufstoßen, um sich eine Zigarette zu erbitten, sobald ein Schatten die Scheibe verdunkelt. Vor einigen Tagen hat der Fotograf 25 Plakate online gestellt, mit denen er und sein Atelier für den Verbleib Großbritanniens in der EU werben. Wie jede Nation hassen die Briten Einmischung in ihre Angelegenheiten von außen. Tillmans ist 1968 in Remscheid geboren, aber er lebt seit 26 Jahren in London, er hat als erster Nichtengländer den renommierten Turne
rner-Preis gewonnen und er wurde als eines von nur 80 Mitgliedern in die Royal Academy of Arts berufen. „Ich glaube also, ich darf sprechen“, sagt er trocken.Ende März war in der linksliberalen Tageszeitung The Guardian ein Kommentar der Journalistin Jackie Ashley erschienen, die schonungslos mit der Kampagne der EU-Befürworter abrechnete: „Es gibt unter denen, die raus aus der EU wollen, eine Leidenschaft, die das nuschelnde Lager der Bleibe-Befürworter vermissen lässt.“ Das Foto dazu sprach Bände: Londons Bürgermeister Boris Johnson, der Poster-Boy des Brexit-Lagers, mit nach oben gestreckten Daumen vor einem knallroten Monster-LKW, auf dem steht, „Let’s take back control. Vote Leave“. Auf diese schrillen Töne fand die Gegenseite bisher keine angemessene Antwort. Die Stockfotos und Diagramme, mit denen die Kampagne Stronger In vor den Kosten des Austritts warnt, sehen wie Unterlagen für den Gemeinschaftskundeunterricht aus.Übel schmeckende SuppeDie Slogans auf Wolfgang Tillmans’ Plakaten lesen sich so eingängig wie Songtitel: What is lost is lost forever, Say you’re in if you’re in. Darunter steht nüchtern die Aufforderung, sich bis zum 7. Juni registrieren zu lassen. Wer diese Frist versäumt, darf am 23. Juni nicht abstimmen. Tillmans will junge Wähler mobilisieren und das vermeintliche Langweiler-Thema EU positiv besetzen: „Ich habe schon immer ein sehr starkes Bewusstsein dafür, dass alle Freiheiten, die ich heute genieße und die ich vor 25 Jahren genossen habe, hart erkämpft worden sind. Ich habe mir letztens die EU-Charta angesehen. Da ist Punkt drei, niemand darf hingerichtet werden. Das hast du nicht in China, das hast du nicht in Saudi-Arabien, das hast du nicht in den USA. Ich kann mich dafür begeistern, dass in der EU niemand hinrichtet wird.“Placeholder gallery-1Die Plakate sind so designt, dass sie auf drei Plattformen funktionieren: Auf dem Smartphone, um sie via Social Media zu teilen, als PDF, das jeder selbst downloaden, ausdrucken und aufhängen kann, und als A1-Poster, das Tillmans von Bath bis Nottingham plakatieren lassen will. „Ich liebe Drucksachen“, sagt er. „Aber das Internet ist für mich nichts anderes als ein Flüssigkristallplakat.“Von einem Fotografen wie Wolfgang Tillmans hätten viele vermutlich erwartet, dass er Bilder zeigt, die für die Freiheiten stehen, die in der Europäischen Union garantiert werden. Ein Foto wie The Cock (Kiss) von 2002 zum Beispiel, auf dem zwei Männer knutschen. Tillmans winkt ab: „Die Visualisierung von Worten ist das Gegenteil von Kunst. Ich konnte das nie, deshalb habe ich auch nie Werbung gemacht, andere können das. Mit Worten hingegen habe ich mich immer gewandt gefühlt.“ Zwei seiner Plakate listen Befürworter des Brexit auf, darunter Wladimir Putin, der Medienmogul Rupert Murdoch, IS-Kommandant Abu Bakr al-Baghdadi und Marine Le Pen. „Wenn man einen Topf aufmacht und alle reintut, die gegen die Werte der EU sind, dann bekommst du diese übel schmeckende Suppe.“Rupert Murdochs Boulevardzeitung Sun titelte im März „Queen Backs Brexit“ – die Queen ist für den Brexit. Der Königshof dementierte das zwar sofort, aber die Schlagzeile war in der Welt und sah auf dem Cover mit der Monarchin im vollen Ornat trotzdem gut aus. Tillmans setzt dieser Propaganda ein schwarzes Plakat entgegen, auf dem steht, wie Rupert Murdoch einmal seine Abneigung gegen die EU erklärte: „Wenn ich in die Downing Street spaziere, machen sie, was ich sage. Wenn ich nach Brüssel gehe, nehmen sie keine Notiz von mir.“Mit der Agitation der britischen Boulevardpresse beschäftigt Wolfgang Tillmans sich schon lange. 2002 schickte er einen Brief an British Airways, in dem er die Fluglinie „als schwules, im Ausland geborenes Mitglied Ihres Executive Clubs“ aufforderte, die Daily Mail nicht mehr an ihre Passagiere zu verteilen. Die Airline, schrieb er damals, sei ein Botschafter für Großbritannien in der Welt: „Warum heißen Sie Passagiere in fremden Ländern mit einer Zeitung willkommen, die denkbar unbritische Werte vertritt: Kleinlichkeit, Engstirnigkeit und Hass?“ Heute kämpft die Daily Mail neben der Sun an vorderster Front für den Brexit. Tillmans sagt, er denke ernsthaft darüber nach, den Brief noch einmal zu schreiben: „Man kann als europäische Fluglinie nicht diese Propaganda verteilen.“British Airways antwortete ihm damals, die Zeitung sei bei ihren Kunden außerordentlich beliebt, deshalb sei es vollkommen angemessen, sie zu verteilen. Tillmans’ Brief und das Antwortschreiben sind in sein Langzeitwerk Truth Study Center eingegangen. Unter diesem Namen stellt er seit 2005 eine wachsende Zahl von Holztischen aus, auf denen er Fotos, Zeitungsartikel, Broschüren, Zitate und andere vorgefundene Dinge arrangiert. Manche tauchen immer wieder auf und scheinen erst später ihre Bestimmung zu finden. Das Foto eines Artikels aus dem Guardian von 2006 zeigt einen Urlauber in Badehose, der seine Wasserflasche an den Mund eines afrikanischen Flüchtlings hält, dessen Boot vor der Küste von Teneriffa gekentert ist. Es wirkt von heute aus gesehen wie ein Vorbote der Bilder von Lesbos und Bodrum.Ein neongelber Sticker, 2002 in London fotografiert, wirbt für die Gruppierung „Muslims Against Western Values“. Über Pop-Dschihadismus sprach damals noch niemand. Aktuell bleibt die Anzeige: „21,1 % für die NPD – hier macht man Urlaub!“ In der Sächsischen Schweiz, wo die Ferienwohnung steht, fahren die Rechtsradikalen immer noch zweistellige Wahlergebnisse ein. Pegida-Anhänger wird es heute freuen, dass sie in den Ferien dort keinem Fremden begegnen, das Bundesland Sachsen wirbt indes seit der Landtagswahl verzweifelt in den großen Tageszeitungen um andere Touristen.Die Tische setzen auch ins Bild, wie reaktionäres und autoritäres Denken an unterschiedlichen Orten erstarkt. Tillmans fällt dazu noch etwas ein, das er vorgestern im Flugzeug von London nach Berlin erlebt hat. Neben ihm saß ein Pakistaner aus Bautzen: „Er sprach von den Rechtsradikalen in Pakistan. Gemeint waren die Islamisten.“Die gleiche EitelkeitDie Tür geht auf. Ein Galeriebesucher, der die Toilette sucht. Zigaretten hat er keine, aber wo er schon mal hier ist, will er Tillmans etwas anderes anbieten. An der Technischen Universität, wo er Architektur studiert, gibt es ein Gerät, mit dem Lithografien hergestellt werden können: „Wenn du Lust hast, könnten wir da eine größere Auflage drucken.“ Klar gefällt Tillmans die Idee, aber für Drucksachen, die man in einen Wahlkampf einbringt, gibt es Vorschriften. Da muss die Druckerei draufstehen. „Die Sache ist auch, ich will in Deutschland keine Kampagne machen, außer für die Briten hier, die stimmen können.“ Tillmans wippt auf seinem Stuhl, irgendwie ist er mit dieser Antwort selbst nicht zufrieden. „Aber later“, sagt er, „wenn das hier gut gegangen ist, oder auch wenn es schlecht gegangen ist, dann braucht die ganze EU eine Mobilisierung. Meld dich nach dem Sommer.“Wolfgang Tillmans schätzt, dass 20 Prozent der Europäer mit autoritären Strukturen sympathisieren. „Diese 20 Prozent sind wahnsinnig verärgert, denn wir gewinnen ja seit 60 Jahren. Wenn man sich überlegt, was für die Gleichstellung und Lesben- und Schwulenrechte getan wurde, dann bewegen wir uns kontinuierlich in die richtige Richtung. Das macht die kirre.“ Leider, sagt er, gebe es auch unfreie Linke. Sein größeres Projekt sei es deshalb, wirklich die Mitte zu stärken, Moderation zu fördern, „sie cool zu machen. Es kann nicht sein, dass nur das laute Schreien cool ist“. Bei einem Yanis Varoufakis beobachte er die gleiche Eitelkeit, die gleiche egobetriebene Rhetorik wie bei Horst Seehofer, dem es auch nicht um Einigung geht. „Revoluzzer-Romantik ist im Moment nicht produktiv.“
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