Der Künstler Hans-Hendrik Grimmling kann sich noch gut erinnern, wie es 1999 bei der Eröffnung der Ausstellung Aufstieg und Fall der Moderne in Weimar zugegangen ist. Er reiste am Vorabend an, schlief in einer Pension unter dem Ettersberg, und als er anderntags zu der Mehrzweckhalle ging, in welcher Teil III der Ausstellung „Offiziell und Inoffiziell – Die Kunst der DDR“ untergebracht war, da fiel ihm zuerst die lange Rampe ins Auge, die als Zugang errichtet worden war. Krank fand er das, sagt Grimmling, gerade hier am Fuße des Bergs, auf dem von 1937 bis 1945 das KZ Buchenwald stand. Ebenso wie die Idee, nebenan als Teil II die Sammlung Hitler zu präsentieren.
Drinnen dann die mit Planen ausgekleidete Halle, in der die DDR-Kunst zum Teil auf dem Boden stand. Über 500 Werke, wahllos an den Wänden verteilt, bis auf eine weiße Rotunde, die wie ein Keil in den Raum ragte, in der ausgewählte Bilder in einem besseren Licht gezeigt wurden.
„Ich war erschüttert, als ich diesen Dreck sah“, sagt Grimmling. Stehenden Fußes rief er den Kurator der Leipziger Sparkasse an, die Leihgeber seines Gemäldes Schuld der Mitte II war. Der Kurator fuhr nach Weimar, zog sich ein Paar weiße Handschuhe an und nahm das Bild kurzerhand von der Wand.
Nur raus hier
Grimmling blieb nicht der einzige, der aus der Weimarer Schau raus wollte. Die Maler Ralf Kerbach und Reinhard Stangl hängten ihre Bilder eigenhändig ab, Wolfgang Mattheuer, Hans Ticha und andere forderten den Direktor der Kunstsammlungen zu Weimar zur Herausgabe ihrer Werke auf, die Briefwechsel sind dokumentiert. Neo Rauch nannte die Hängung im Spiegel eine „Massenexekution“ und drohte ebenfalls mit Selbstabholung.
Die Ausstellung Aufstieg und Fall der Moderne markierte den Höhepunkt des deutsch-deutschen Bilderstreits, von dem viele sagen, dass er ein Stellvertreterdiskurs für Diskussionen war, die in anderen Teilen der Gesellschaft nicht geführt wurden. Der damalige Vize-Präsident Matthias Flügge schrieb in einer Erklärung der Akademie der Künste von einem „Rückfall in demagogische Abwertungs- und Denunziationsmuster des Kalten Krieges“ und äußerte sich besorgt über das kulturelle Klima zehn Jahre nach dem Mauerfall. Heute sagt er, sei eine solche Vorführung auf Müllsäcken und die Parallelsetzung mit Nazi-Kunst sicher nicht mehr vorstellbar. Doch die Frage, wie mit dem künstlerischen Nachlass der DDR umgegangen werden soll, sorgt noch immer für Kontroversen.
Das fängt bei der Frage an, ob man überhaupt von einem Nachlass sprechen kann, da ein guter Teil der Künstler noch lebt und arbeitet. Und wie verhält es sich mit solchen, wie dem heute 65-jährigen Grimmling, die vor 1989 ausgewandert sind? Ist ein Grimmling-Gemälde von 1979 DDR-Kunst und ein Grimmling von 1987 West-Kunst? Vor allem aber ist da nach wie vor die Frage nach dem Umgang mit Künstlern wie Bernhard Heisig, die von den einen Staatskünstler genannt werden, von anderen sogenannte Staatskünstler, während wieder andere den Begriff nicht in den Mund nehmen würden.
Utopie und Realität
Die Ausstellung Abschied von Ikarus will nun in Weimar einen Neuanfang versuchen. Nicht in der klammen Mehrzweckhalle, sondern im Neuen Museum, wo 1999 die Sammlung Paul Maenz mit Werken aus Westeuropa und den USA aus den siebziger und achtziger Jahre gezeigt wurde.
Einer der Kuratoren der Ausstellung ist der Kunsthistoriker Eckhart Gillen. Der gebürtige Karlsruher hat über Bernhard Heisig promoviert und bereits mehrere Ausstellungen kuratiert, die auch Kunst der DDR zeigten, darunter Deutschlandbilder – Kunst aus einem geteilten Land 1997 im Martin-Gropius-Bau und Kunst und Kalter Krieg – Deutsche Positionen 1945-1989, die 2009 in Berlin, Nürnberg und Los Angeles gezeigt wurde. Er gilt als einer der renommiertesten Experten auf dem Gebiet, Kritiker werfen ihm eine zu große Deutungsmacht vor. In einem aber scheinen sich inzwischen alle einig zu sein: Die Kunst der DDR zeigen zu wollen, ist der falsche Ansatz.
Mit Abschied von Ikarus will man sich in Weimar auf die Idee der Utopie konzentrieren, auf „Utopieerwartungen und Utopieermüdungen“, wie Gillen sagt. Den Auftakt macht im Eingangsbereich ein Doppelbild: Eisenhüttenstadt (1954) von Bernhard Kretzschmar trifft auf Wolfgang Mattheuers Freundlicher Besuch im Braunkohlerevier (1974). „Kretzschmar zeigt das Ideal der Industrielandschaft, Mattheuer die verwüstete Landschaft. Die Funktionäre schweben über dem Boden, sie sind völlig abgehoben, die Arbeiter gehen an ihnen vorbei. Man sieht sich, man verpasst sich. Das ist die These: Utopie und Realität.“
Ikarus als Sputnik
Die Utopieerwartung will Gillen auch anhand von Künstlern zeigen, die von außen in die DDR kamen, unter ihnen der Italienier Gabriele Mucchi und der Spanier Josep Renau. Renau wird unter anderem mit der Fotomontage Die Eroberung des Kosmos (1966) und dem Entwurf zum Triptychon Die friedliche Nutzung der Atomkraft (1970) im Themenraum „Technokratische Utopie“ vertreten sein. Für Gillen gehören dazu so unterschiedliche Positionen wie Willi Sittes Chemiearbeiter am Schaltpult (1968), Lothar Zitzmanns Kosmonauten (1960/61) und Neo Rauchs Der Auftrag – das Bildnis eines Piloten mit Holzbein, das erst 1996 entstanden und im Besitz des Innenministeriums ist.
Die technokratische Utopie spiegelt sich auch im zentralen Motiv der Ausstellung: Ikarus, der mit Fügeln aus Wachs aus der Gefangenschaft flieht, zu nahe an die Sonne kommt und ins Meer abstürzt. Auf dem Plakat ist Wolfgang Mattheuers Sturz des Ikarus II (Flugtraum) abgebildet, das ihn als Sputnik zeigt. Die zahlreichen Ikarus-Darstellungen werden im Treppenhaus des Neuen Museum zu sehen sein: Ikarus als Aufsteigender, Ikarus als Stürzender, aber auch der gefesselte Ikarus, wie Hans-Hendrik Grimmling ihn im Diptychon Ikarus zu Hause 1979 dargestellt hat. Die Parallele zur Situation des Künstlers in der DDR ist in vielen Arbeiten evident.
Abschied von Ikarus ist die erste große Ausstellung in Kooperation mit dem „Bildatlas: Kunst in der DDR“. Das Projekt unter der Leitung des Soziologen Karl-Siegbert Rehberg wird seit 2009 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und soll die Bestände in den Depots von Museen, Unternehmen und Sondereinrichtungen erfassen. Rund 22.000 Werke wurden bereits registriert, darunter auch als verschollen geltende Exponate, etwa der Dritten Deutschen Kunstausstellung 1953 in Dresden.
Sichtbar machen
Ein entscheidender Unterschied zu 1999, sagt der beteiligte Soziologe Paul Kaiser, sei, dass die Materiallage nun eine ganz andere ist. Ihn habe vor allem die Qualität der außermusealen Sammlungen überrascht, auch der Volkseigenen Betriebe. Zu den Neuentdeckungen zählt für ihn der 1986 gestorbene Joachim Völkner, der zu Lebzeiten nur eine einzige Ausstellung hatte. In Weimar ist er mit der Paardarstellung Der Vorhof (1983/84) vertreten, zeitgleich werden ein Selbstbildnis und eine Passionsszene von Völkner in den Satelliten-Ausstellungen in Erfurt und Gera zu sehen sein. Kaiser geht es vor allem darum, die Kunst der DDR wieder sichtbar zu machen. Der Bildatlas soll im kommenden Jahr in gedruckter Version und als Online-Datenbank veröffentlicht werden.
Das Projekt ist jedoch nicht unumstritten. Matthias Flügge etwa findet es „sinnlos aufgeblasen“. Wenn, dann müsse an die Kunst im Westen dieselben Fragen gestellt werden. Das Argument, in den Museen sei keine DDR-Kunst zu sehen, hält der Kunsthistoriker darüber hinaus für „blanken Blödsinn“. Für ihn hat es den Anschein, dass der Atlas und die anstehende Weimarer Ausstellung ein erneuter Versuch der Gettoisierung sind.
Auch Hans-Hendrik Grimmling ist skeptisch. Der Künstler fürchtet, dass mit Abschied von Ikarus der Begriff der Staatskunst verwässert werden soll: „Ich will nicht mit Willi Sitte verglichen werden, damit der endlich kein Genosse mehr ist.“ Wird er wieder zur Eröffnung nach Weimar fahren? „Natürlich“, sagt Grimmling. „Manchmal sind die Augen befriedigter als das Herz. Vielleicht ist der ganze Mist dann ja doch interessant.“
Abschied von Ikarus. Bildwelten der DDR – neu gesehen Neues Museum Weimar, 19. Oktober 2012 bis 3. Februar 2013 Tischgespräch mit Luther. Christliche Bilder in einer atheistischen Welt Angermuseum Erfurt 21. Oktober 2012 bis 20. Januar 2013 Schaffens(t)räume. Atelierbilder und Künstlermythen Kunstmuseum Gera 20. Oktober 2012 bis 3. Februar 2013
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