Februar 2013. Ein Konzert vor Journalisten in einer Bar in Berlin-Mitte. Es gibt „Blonden Engel“ für umsonst, Eierlikör mit Orangenlimo. Ein Getränk, das an überheizte Wohnzimmer und Sesselschoner denken lässt. „In kalten Zeiten wie diesen“, stand in der Einladung, „sollen eure Herzen mit Liebe gefüllt werden“. Der Mann, der sich das zur Aufgabe gemacht hat, nennt sich Dagobert und sieht wie ein Prada-Model aus: schmales Gesicht, prägnante Kinnpartie, das gewellte Haar lose gescheitelt und mit Pomade zurückgestrichen. Er trägt einen maßgeschneiderten Dreiteiler und schwarze Stiefel bis unter die Knie. Die Musik kommt vom Band, dazu schmettert er in einem Dialekt, der die Vokale leicht verleiern lässt: „Ich war noch nieee, so verlieeebt“ und „Du bist so ausgeflippt und wild/ dein Wahnsinn schützt dich wie ein Schild/ vor meiner ganz normalen Lieeebe“. Es ist zum Davonlaufen. Nicht weil der Mann nicht singen könnte. Er hat eine schöne Stimme. Aber was soll der Schmalz?
Rückblick, Sommer 2005. Das Immergut-Festival bei Neustrelitz ist ein kleines, aber ausgesuchtes Festival für Independent-Musik. Das Publikum ist größtenteils um die 20 und aus Berlin oder irgendwie in der Branche tätig. Seit zwei Tagen wechseln sich auf den beiden Bühnen Singer-Songwriter und Indie-Bands ab. Als letzte Band am letzten Abend treten drei vollschlanke Typen in gelben Müllsäcken auf. Zu elektronischem Geballer aus dem Laptop brüllen sie „Yippie, Yippie, Yeah, Yippie, Yeah“ und springen auf schrottplatzreifen Sofas herum. Das Publikum entscheidet sich, kollektiv durchzudrehen. Im Forum des Festivals wird später einer schreiben, es sei die Geburtsstunde von Deichkind 2.0 gewesen – aus einer belächelten Hip-Hop-Band wurde die Szene-Sensation. Deichkind haben Krawall-Techno und Hedonismus auch für Studierte salonfähig gemacht. Selbst ein Scooter-Konzert hatte jetzt was. Soll Dagobert nun das Gleiche für den Schlager leisten?
Rückzug ins Biedermeierliche
Die Geschichte von Dagobert geht so: 1982 in einem Dorf im Schweizer Kanton Aargau geboren. Mit acht schenkt ihm sein Bruder eine Scorpions-CD. „Voll geil“, denkt er und hört bis zu seinem 14. Lebensjahr nichts anderes. Nach der Matura weiß er nicht, was er tun möchte, und weil er nichts tun möchte, was ihm nicht gefällt, entscheidet er sich, nichts zu tun. Es folgen zwei Jahre im Keller und Proberaum von Freunden, wo er sich die Instrumente beibringt. Er schickt eine CD einer Schweizer Kulturstiftung, bekommt 18.000 Franken, mietet sich in Berlin eine große Wohnung (etwas Bowie, räumt er ein, hat er im Keller auch gehört) und tobt sich ein halbes Jahr lang aus. Dann ist er wieder pleite und zieht sich in ein Haus in den Bergen zurück, um ein paar Aufnahmen zu machen. Er bleibt und komponiert hundert Songs – „70, 80 Liebeslieder und ein paar experimental-depressive Todeslieder“. Nach dreieinhalb Jahren kann er keine Lieder mehr schreiben, „es gab ja keine Einflüsse mehr“. Er sitzt dann noch eineinhalb Jahre auf diesem Berg und kann sich nicht entscheiden, ob er wieder runter soll. Er schickt eine Promo-CD an Universal, was dazu führt, dass Menschen diverser Plattenlabels seinen Berg erklimmen. Er wertet das als Chance und pumpt seine Eltern für ein Flugticket an. Im Frühjahr 2010 ist er zurück in Berlin.
Während er all das erzählt, schaut Dagobert vor allem die Tischplatte im Café Riba an, wo wir uns ein paar Wochen nach der Journalisten-Show treffen. So kann einer schauen, der eine gut erfundene Geschichte aufsagt – aber auch einer, dem es unangenehm ist, von sich zu sprechen. Falls Dagobert eine Kunstfigur sein sollte, dann ist er zumindest keine laute. Kein Alexander Marcus, der in neonfarbenen Anzügen und ewig grinsend Volksmusik mit House-Beats mischt. Und dann sagt er, den Blick noch immer auf der Tischplatte, zwei schöne, sehr ehrlich klingende Sätze: „Ironie gibt es bei mir nicht. Ich meine das schon so, wie ich es singe“.
Sind Dagoberts Lieder also vielleicht nur der nächste Schritt des – vielfach verfluchten – Rückzugs der deutschsprachigen Popmusik ins Biedermeierliche? Man muss sich nur einmal an das Jahr 2006 erinnern, als das Blumfeld-Album Verbotene Früchte erschien und Jochen Distelmeyer in den Feuilletons verbal gesteinigt wurde, weil er von Pferdchen, Bienen und vom Apfelmann sang. Klar, diesen Hass hätte es ohne Distelmeyers Vorgeschichte so nicht gegeben: Mitbegründer der Hamburger Schule, linkspolitisch engagiert. Wenn so einer dann plötzlich die Münchner Freiheit für sich entdeckt, ist das zweifelsohne ein Skandal. Zumal in Hamburg, wo man Pathos generell nur ironisch-distanziert erträgt. Dagobert hat keine Vorgeschichte, er kommt quasi aus dem Nichts. Eigentlich. Doch wenn sein Album nun beim Hamburger Label Buback erscheint, gibt es den Erwartungshorizont frei Haus. Buback wurde 1987 von Ted Gaier und Ale Dumbsky von den Goldenen Zitronen gegründet. Die Musik der Goldenen Zitronen ist nicht ganz einfach zu kategorisieren, am besten triffft es wohl experimenteller Punk mit intellektuellem Überbau. Die erste Band, die sie auf Buback veröffentlichten, hieß Angeschissen und machte reinen Punk. Es folgten Bambule von den Absoluten Beginnern, Wo die Rammelwolle fliegt von DJ Koze aka Adolf Noise, JaKönigJa und 1000 Robota. Seit 2004 gehört Buback dem Künstler Daniel Richter, der schon lange Plattencover für das Label malt. Lenin (2006) von den Zitronen zum Beispiel: Ein Phantom in schwarzer Lederjacke, auf dem Rücken steht in Nieten „Fuck the Police“. Das Original in Öl – Titel „Lonely Old Slogan“ – misst 2,5 mal 2,8 Meter und ist im Besitz des Hamburger Sammlers Harald Falckenberg. Ziemlich viele Pole also, zwischen denen Buback oszilliert. Und doch erkennt man einen gemeinsamen Nenner: eine emanzipatorische Haltung, die sich mal konkret in den Texten, mal rein musikalisch artikuliert. Was also treibt ein Label wie Buback dazu, eine Platte zu veröffentlichen, auf der ein heterosexueller, 30-jähriger Schweizer singt: „Du bist viel zu schön um auszusterben/ Lass unsre Kinder deine Schönheit erben/ und mich dann für uns alle sorgen/ besser heut als morgen“?
Die andere Hossa-Fraktion
Fragt man Friederike Meyer und Stephan Rath, die bei Buback entscheiden, was veröffentlicht wird, winken beide beim Stichwort Alleinernährer ab. „Das ist absurd“, sagt Meyer. „Ich kenne niemanden, der so pleite ist und sich einer reinen Erwerbsarbeit so radikal verweigert.“ „Eigentlich müsste man für ihn sorgen“, sagt Rath. „Ich halte das für einen romantischen Traum. Ein Klischee, um ein Gefühl auszudrücken.“ Also doch eine Parodie? Erneutes Abwinken. Der meine das schon so. Meyer sagt, sie habe ursprünglich schon gedacht, er sei vielleicht eine Berliner Kunstfigur. Was für sie kein Ausschlusskriterium gewesen wäre. Jetzt sagt sie: „Er heißt nicht wirklich Dagobert, aber alles andere ist tatsächlich so.“ Sein echter Name ist ihnen bekannt, aber auch sie nennen ihn nur Dagobert. „Alle nennen ihn Dagobert. Sogar seine Geschwister.“ Beide sagen, sie habe an Dagoberts Liedern das „Pure, Direkte, Ehrliche“ überzeugt. Die Dringlichkeit, mit der er singt, ohne sich um irgendeine Konvention zu scheren. „Dagobert“, sagt Rath, „ist unser Bekenntnis zum Schlager-Chanson“.
Die Promo-CDs haben sie probehalber auch ans Schlagerradio geschickt. „Da kam kein Feedback“, sagt Meyer. „Für uns klingt das vielleicht schlageresk, aber denen ist das zu progressiv“. „Für die Hossa-Fraktion“, sagt Rath, „ist Dagobert zu melancholisch. Die wollen eine Four-to-the-Floor-Bassdrum und schunkeln“. Im Prinzip findet er es schade, dass es keine Schnittmenge gibt. Worauf sie aber verzichten könnten: Hipster, die auf den Zug aufspringen, weil sie Dagobert „kultig“ finden. „Das wäre dann die andere Hossa-Fraktion, nur dass sie um die 20 sind.“
Am Abend, bevor das Album erscheint, stellt Dagobert seine Lieder, nun für alle, im Hamburger Golem vor. „Das Golem ist ein Ort des gepflegten Besäufnisses und ernsten Gesprächs“, steht auf der Webseite des Clubs, und so gepflegt und ernsthaft ist auch das Publikum an diesem Abend. Und als Dagobert dann davon singt, wie ihn „Morgens um halb Vier“ die Sehnsucht befällt, ein Haus am Meer zu bauen, viele Bäume zu pflanzen, viele Kinder zu kriegen und ein Leben zu führen „voller Lust auf immer mehr“, schaut man rundum in verzückte Gesichter. Der Kitsch, stellt man fest, ist anschlussfähig. Und summt unterdessen selbst mit.
Ach, und überhaupt: „Die ganz normale Liebe“ könnte auch ein Falco-Song sein (tatsächlich denken viele, Dagobert sei Österreicher), „Ich bin zu jung“ erinnert an „Just can‘t get enough“ von Depeche Mode und „Ich mag deine Freunde nicht“ ist schlicht ein großer, origineller Popsong. Was an diesem Abend aber auch auffällt: Die Auswahl für das Album ist sehr sensibel getroffen worden. Die Mitklatschnummer mit dem Refrain: „Oh, du bei mir mit ’ner Dose Bier/ hey, ich will auch eines“ hat man zurecht außen vor gelassen. Oder auch die Zugabe. „Die Menschheit wartet auf dich seit der Steinzeit“. Das trieft.
Universal hat eine sogenannte Option auf Dagobert behalten. Im Erfolgsfall könnte sein nächstes Album auf dem Major erscheinen. Oder das übernächste. Julian Krohn, der als A&R auch Lena betreut, ist dort sein Vertrauensmann. Dagobert könnte groß werden. Es wäre unerträglich.
Dagobert Dagobert Buback (Universal) 2013
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