Vom Teufelsberg aus hat man einen sagenhaften Blick über Berlin, die Stadt, der schon so vieles zugeschrieben wurde, und die sich nun wieder einmal neu erfunden haben soll: diesmal als die wichtigste Post-Snowden-Stadt der Welt, die globale Hauptstadt des Widerstands gegen die NSA. Aus diesem Grund jedenfalls stehen wir heute, am ersten Jahrestag der Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden, auf diesem Berg, zwischen schon leicht zerfetzten, großen Radarkugeln. Sie sind Teil der längst verwaisten Abhöranlage, die Briten und Amerikaner im Kalten Krieg hier betrieben haben. Wir sind in einem schneeweißen Reisebus gekommen, hinter dessen Frontscheibe ein Zettel klebt, der uns als „Magical Secrecy Tour“ ausweist – in Anlehnung an den Musikfilm Magical Mystery Tour der Beatles, der von einer sehr psychedelischen Busfahrt ins Blaue handelt. Entsprechend hoch sind die Erwartungen.
Die Tour führt zu historischen und neuen Orten der Geheimhaltung, und erdacht hat sie Leslie Dunton-Downer, eine ehemalige Harvard-Dozentin, die seit Januar als Stipendiatin der American Academy am Wannsee lebt und von den Debatten um die NSA in der Stadt regelrecht infiziert ist. Also dachte sie, man müsse hier am „Snowden Day“ unbedingt etwas unternehmen. Als Partner konnte sie das Team der Transmediale gewinnen, die jedes Jahr im Januar das gleichnamige Medienkunstfestival veranstalten. Von ihnen stammt die Idee mit dem Bus.
Sonnengruß mit Pfeife
In ihrer kurzen Zeit in Berlin hat Dunton-Downer eine Menge über die Stadt verstanden. Zum Beispiel, dass alles mit Lars Eidinger hier immer auf Interesse stößt. Eidinger, der Schauspieler, hat mit dem US-Schriftsteller Jonathan Lethem, der bis vor kurzem auch Gast der American Academy war, einen kleinen Film aufgenommen, in dem die beiden so tun, als hörten sie sich gegenseitig ab: Lethem den Eidinger mit einer Vase Tulpen, Eidinger den Lethem mit einer Wanze, die er später ausspuckt.
Der Film, der eine Woche vor der Tour im Internet veröffentlicht wurde, ist albern, hat aber einen ernsten Kern. Natürlich verdächtigt der Zuschauer erst mal nur den Amerikaner Lethem. Es geht um berechtigte Ängste und um alte und neue Vorurteile. Beides soll auch bei der Tour Thema sein.
Dunton-Downer trägt eine Trillerpfeife um den Hals, mit der sie früh um acht schon am Brandenburger Tor war, um den Tag mit einem „Whistleblower-Sonnengruß“ vor der US-amerikanischen Botschaft zu beginnen. Unser Bus ist gegen Mittag gestartet. Wir haben das Stasi-Archiv in Lichtenberg besucht und sind an der Topografie des Terrors und der neuen BND-Zentrale an der Chausseestraße vorbeigefahren. Als wir den Teufelsberg erreichen, ist es schon früher Abend. Klassenfahrtatmosphäre stellt sich ein.
Leslie Dunton-Downers eisblaue Augen flitzen zwischen den 60 Menschen hin und her, die sie hier zusammengeführt hat, darunter eine Ex-Agentin des britischen Inlandsgeheimdiensts MI5, ein Wirtschaftsanwalt, der Geschäftsführer von Transparency International und eine Menge Journalisten. Eine Frau, die für die Stiftung des Hackers Wau Holland arbeitet, ist unterwegs, mit einer Chelsea-Manning-Maske winkend, ausgestiegen.
In einer gen Osten gerichteten Radarkuppel erleben wir eine Soundperformance.Wir vernehmen das Rauschen von Elektrosmog. Ein sehr junger Historiker und ein früherer Militärattaché der Briten, der einst in Potsdam stationiert war, erzählen von den Signalen, die während des Kalten Kriegs hier abgefangen wurden. Schon damals, erfahren wir, ging es auch um vermeintlich banale Details. Etwa um die Zahl der Brötchen, die eine sowjetische Einheit vor einem Manöver bestellte. Nigel Dunkley, der Brite, sagt, dass das Lauschen sehr wohl Kriege verhindert habe und er seine Kollegen als Helden sehe.
Zurück im Bus sorgt das für heftige Diskussionen. Dymitri Kleiner von den Telekommunisten – ein Programmiererkollektiv, das einen alternativen Internet- und Telefondienst anbietet – protestiert nun nachdrücklich gegen die „Good Guys, Bad Guys“-Rhetorik, die er schon seit der ersten Station, dem Stasi-Archiv, kritisiert. Dann geschieht tatsächlich ein Wunder. Ob es durch das magische Flimmern auf den Monitoren im Tourbus ausgelöst wird – das Bild einer Kamera, mit der wir erfolglos versuchen, Überwachungskameras außerhalb des Buses anzuzapfen – oder an Leslie Dunton-Downer liegt, die jedes Argument enthusiastisch aufsaugt: Die Fahrt endet nicht im Streit um den richtigen Umgang mit Stasi-Akten, sondern miteiner offenen Diskussion über historische Analogien und neue Gesetze gegen Whistleblower.
Raumstation C-Base
Ich setze mich für einen Moment neben den Wirtschaftsanwalt, der dem Liftboy aus Wes Andersons Film Grand Budapest Hotel irritierend ähnlich sieht. Er erzählt, wie erstaunt er sei, dass immer noch nur ein Prozent der Kunden seiner Kanzlei Verschlüsselung nutze. Er finde das zwar unbequem, halte es aber für ein Muss.
Dann sind wir am letzten Stopp der Tour, der C-Base in Berlin-Mitte. Der Legende nach ist sie Teil einer unterirdischen Raumstation, deren einziger sichtbarer Ausläufer ihre Antenne ist. Nichteingeweihte nennen die Antenne „Berliner Fernsehturm“. Die C-Base sieht mit ihrer Raumkapsel-Optik und den durchgesessenen, wuchtigen Ledersofas im Innern wie ein Jugendzentrum aus den 90er Jahren aus. IT-Stammtische treffen sich hier und Leute vom Chaos Computer Club. Zur amerikanischen Botschaft und der neuen BND-Zentrale an der Chaussee-Straße verhält sich die C-Base wie das kleine gallische Dorf zu den befestigten Römerlagern. Nur der Zaubertrank fehlt oder eben ein magischer Code, der alle gegen Ausspähung schützt.
So endet dieser erste Edward-Snowden-Tag in der Hauptstadt des Widerstands gegen die globale Überwachung wie so viele Tage in Berlin: Journalisten, Künstler, politische Aktivisten, Nerds und der eine oder andere Exot aus der Wirtschaft tauschen sich entspannt aus – und trinken alkoholische Getränke, die nach Spähprogrammen benannt sind.
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