Falls Woody Allen eines Tages doch noch in Berlin drehen sollte, dann müsste sein Film hier beginnen. Zwischen der Schlossbaustelle und den fast bezugsfertigen Neubauten mit ihren neoklassizistischen Fassaden in Mitte. Wenn man den dicken pinkfarbenen Röhren folgt, durch die das Grundwasser abgeleitet wird, gelangt man zu einer gusseisernen Tür und dahinter in eine Art Salon – einen achteckigen Raum, in dem an einem Sonntagabend im April, Punkt 19 Uhr, ein junger, schlanker Mann in die Tasten eines Cembalos greift. Eine Frau begleitet ihn auf einer Flöte, Menuet I & II aus André Campras Carnaval de Venise von 1699, ein Tanzstück, das seinem Namen und Alter entsprechend klingt: höfisch, barock. Ringsum sitzen Menschen, die man um diese Uhrzeit an diesem Wochentag mehrheitlich im Bett oder auf dem Sofa vermuten würde, weil die Nacht erst vor ein paar Stunden in einem Club für sie geendet hat. Den Tanz, den seinerzeit in Versailles hochnervöse Paare im Sonntagsstaat vor der versammelten Adelsposse darboten, führt hier ein einzelner Baletttänzer aus, ein junger Mann in Khakihosen und weißem T-Shirt, unter dem sich scharf die Rippen seines Brustkorbs abzeichnen.
Das bessere New York
Es ist, kurzum, eine Szene, in der vieles nicht stimmig ist und die doch vieles von dem spiegelt, was Berlin aus Sicht eines New Yorkers heute wie das bessere New York erscheinen lässt. Oder wahlweise auch wie New York vor 30 Jahren, was letztlich dasselbe meint. Die Sehnsüchte, die US-Amerikaner auf Europa projizieren, hat Woody Allen zuletzt in Paris und Rom verhandelt. In seinem Berlin-Film müsste er schon deshalb selbst mitspielen, weil man gerne hören würde, wie er den Namen Schinkel-Klause ausspricht. Zu DDR-Zeiten war der achteckige Raum eine offiziöse Kantine, in den 90ern zog eine griechische Taverne ein, die antik aufgemachten Ornamente an den blassblauen Wänden zeugen noch davon. Im Sommer soll nun nach langem Leerstand eine Kunstgalerie eröffnen. Bis Mitte Mai die Umbauarbeiten beginnen, bleibt die Klause den Künstlern Calla Henkel und Max Pitegoff überlassen.
Henkel und Pitegoff sind Ende 20, beide stammen aus den USA, sie aus Minneapolis, er aus Buffalo, mit einem Umweg über New York leben sie seit sechs Jahren in Berlin. Viele, die an diesem frühen Sonntagabend auf den Bänken in der Schinkel-Klause sitzen, sind Expats wie sie, die mit einem Visum für Künstler in Berlin leben. Ein bis drei Jahre ist ein solches Visum gültig, für US-Bürger kostet es 60 Euro. Wer nachweisen kann, dass er seinen Unterhalt mit Kunst verdient, bekommt es von der Ausländerbehörde verlängert. Die Frage, wer unter welchen Bedingungen hierher kommen darf, sagen Henkel und Pitegoff, treibt auch sie verstärkt um, seit Tausende von Flüchtlingen an den europäischen Außen- und Binnengrenzen abgewiesen werden.
Expats in Berlin
Rund 15.000 US-Bürger leben in Berlin, die meisten von ihnen in den Bezirken Charlottenburg-Wilmersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg, Steglitz-Zehlendorf und Mitte. Zum Vergleich: Gut 400.000 Staatsbürger aus dem europäischen Ausland leben hier.
Der Begriff Expatriate – kurz Expat – wurde ursprünglich für Personen verwendet, die von ihrem Arbeitgeber temporär ins Ausland entsandt wurden. In Berlin bezeichnet er vor allem junge Menschen, die vorübergehend hier leben und arbeiten. Ähnlich wie der Hipster steht auch der Expat im Verruf, die Gentrifizierung voranzutreiben.
Auffallend hoch ist der Anteil von Expats, die bei Berliner Start-ups angestellt sind – neu oder jüngst gegründeten Firmen also, die auf innovative Technologien setzen. Viele machen irgendetwas mit Apps. Jeder dritte Start-up-Angestelle hat keinen deutschen Pass.
Die Internationalität der Kunstszene gilt als Standortfaktor. In den Vorläufigen Anwendungshinweisen der Ausländerbehördesteht: „Auch bisher nicht renommierten, aber besonders kreativen Künstlern soll im Rahmen des § 21 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz ein Aufenthalt ermöglicht werden“. Denn: „Bei einem Aufenthalt von Künstlern ist stets von einem übergeordneten wirtschaftlichen Interesse der ‚Kunst- und Filmhauptstadt Berlin‘ auszugehen, welcher positive Auswirkungen auf die Wirtschaft erwarten lässt.“
2002 wurde das erste englischsprachige Stadtmagazin in Berlin gegründet, das Exberliner heißt
Am Tag nach der Performance ist die Schinkel-Klause bis auf das Cembalo und die Fliesenbänke leer. Calla Henkel und Max Pitegoff sind während der knapp zwei Monate, die der Raum ihnen gehört, fast täglich hier. Im Wochenrhythmus laden sie befreundete Künstler ein, das piccolo balletto gestern hat Michael Kleine in Szene gesetzt. Am Eingang wurde ein Programmblatt mit einer historischen Abbildung des danse à deux im Pavillon von Versailles verteilt, den die in den 1960ern gebaute Schinkel-Klause augenscheinlich imitiert. Mit solchen historischen Schichten spielen alle Abende hier, während draußen vor den Buntglasfenstern die Rattanmöbel auf den Balkonen der Luxusimmobilie „Kronprinzengärten“ in Stellung gebracht werden.
Ihre eigene Rolle als Zwischennutzer in der Aufwertung der historischen Mitte von Berlin ist Calla Henkel und Max Pitegoff sehr wohl bewusst. Ursprünglich haben beide sich an der Kunsthochschule in New York und später in Berlin auf Fotografie spezialisiert. Ihre Bildserien befassen sich mit der ökonomischen Seite des Kunstschaffens und der Frage, wer welche Räume in Berlin und anderen Metropolen nutzt und nutzen darf. Für die Serie Nudes fotografierten sie zum Beispiel die Quittungen, die befreundete Künstler für ihre Steuererklärung abheften. Foreword befasste sich mit den Büros der ungezählten Start-ups, die in Berlin gegründet werden. Diese Arbeitsplätze ähneln sich nicht nur untereinander frappierend –, ein Loft, weiße Wände, ein Mensch am Macbook – sondern auch dem, wie Arbeitsplätze von Künstlern seit den nuller Jahren aussehen, oder besser gesagt: inszeniert werden.
Wer Zweifel daran hat, kann sich die kürzlich gelaunchte Seite stusu.com ansehen, die, natürlich, ein Berliner Start-up entwickelt hat. Stusu steht für „studio sublet“ – Atelieruntermiete –, vom thüringischen Apolda bis Zürich werden dort Variatonen des immergleichen lichtdurchfluteten minimalst möblierten Raums zur Tagesmiete angeboten. Ihr eigenes Atelier, sagt Calla Henkel, könnten sie dort niemals einstellen: „Es ist total zugemüllt. Unser Atelier ist eher ein Lagerraum für unsere Projekte. Wir horten das Zeug. Das meiste ist aus Pappe und Styropor. Vieles nutzen wir noch mal neu. Aber eigentlich sollten wir alles verbrennen.“ Seit gut fünf Jahren fotografieren Henkel und Pitegoff nicht nur zusammen, sondern sie schaffen vor allem auch Räume, in denen Künstler sich treffen und Kunst entstehen und gezeigt werden kann. Sie führen die Künstlersalons der 2010er Jahre, wenn man so will.
2011 eröffneten sie in der Neuköllner Hermannstraße mit der Künstlerin Lindsay Lawson die Times Bar. Es gibt nur wenige Fotos aus dieser Zeit, auf den meisten ist die weiß geflieste Theke mit verschiedenen Blumensträußen zu sehen und an der Wand dahinter wechselnde Bilder und Installationen, einmal auch ein Graffiti. Alle zwei Wochen stellte jemand anderes in der Times Bar aus, die Hängung erfolgte nicht wie in Museen oder Galerien außerhalb der Öffnungszeiten, sondern gemeinsam, bei laufendem Betrieb. „Für uns war die Bar ein Belastungstest“, sagt Calla Henkel. „Wir haben dort manchmal von zehn Uhr abends bis zehn Uhr morgens gearbeitet.“
„Lilies on the bar, sex in the basement“, steht neben einem der letzten Bilder auf Facebook, das die Abschiedsnacht in der Times Bar am 7. September 2012 ankündigte. Fotos aus dem Keller oder auch vom Rest der Bar gibt es nicht. Die ganze Times Bar kann man nur auf einem Gemälde ihres Freundes Skye Chamberlain sehen. Es sieht aus wie ein Wimmelbild, das erst ab 16 freigegeben ist. Henkel und Pitegoff stehen hinter der Bar, sie schenkt Schnaps aus, er schaut enerviert, in einer Sprechblase steht: „Close the Door.“ Der Musiker Dan Bodan sitzt auf der Tresenkante und singt: „I’ll sleep with you“, ein Typ wetzt mit einer Ananas in der Unterhose durch den Raum und im Keller herrscht ein halbbekleidetes Durcheinander. „Wir hätten das Gefühl gehabt, die Leute zu manipulieren, wenn wir einen Ort wie diesen schaffen und sie dann fotografieren“, sagt Pitegoff. „In Berlin gibt es diese Tradition der Bilder-Verweigerung. Im Berghain wird die Handykamera an der Tür mit einem Sticker abgeklebt.“ Stattdessen machten sie jede Nacht Notizen, wer kam, was los war. „Später fiel uns auf, dass sie sich wie Skripts für ein Kammerspiel oder auch eine Sitcom lasen.“ So entstand die Idee für das New Theater, das Henkel und Pitegoff von 2013 bis 2015 nicht weit entfernt in der Urbanstraße führten.
Seit 2015 werden die beiden von der Galeristin Isabella Bortolozzi vertreten. Zu den Künstlern der Galerie am Schöneberger Ufer zählen unter anderem die Turnerpreisträgerin Susan Philipsz und der Shooting Star Danh Vo, dessen Werke bei Auktionen schon mal Millionenpreise erzielten. Neben Fotografien verkaufen Calla Henkel und Max Pitegoff auch die gefliesten Bänke, die sie für alle ihre Orte bauen. Fliesen haben als Möbelmaterial keinen guten Ruf. Ein Blogger eröffnete vor ein paar Jahren im Netz das „Deutsche Fliesentischmuseum“, mit dem er bildgewaltig vorführte, wie der Fliesentisch im Reality-TV als Indiz für häusliche Verwahrlosung eingesetzt wird. Die quaderförmigen Bänke, die Henkel und Pitegoff aus Fliesen bauen, sind clean, minimalistisch und variieren in Größe und Farbe. Industriefliesen interessieren sie seit ihrem Abschlussjahr in New York. In ihrem Hochschulatelier eröffneten sie ihre erste Bar. Nebenan war die Toilette. Also kopierten sie diesen institutionellen Look.
Auch in der Schinkel-Klause stehen nun Fliesenbänke, in hellorange, wie die Ornamente aus der Tavernenzeit. Wenn die acht Wochen hier um sind, dann werden auch sie als Kunstwerke gehandelt. Dabei sind diese Bänke nicht geschwätzig, sie geben nichts preis von dem, was sie erleben. Egal wie oft Henkel und Pitegoff den Raum umbauen, es geht spurlos an ihnen vorbei. Noch nicht einmal verschüttetes Bier hinterlässt Flecken. Den Auftakt in der Schinkel-Klause machte Ende März eine zwölfstündige Soundperformance der Britin Juliette Blightman, auch in ihrer Vita steht „lebt und arbeitet in Berlin“. Wer sich in jener Nacht zufällig in das Baustellenwirrwarr verirrte, muss gedacht haben, er sei auf einen temporären Club gestoßen. Ein Laptop feuerte von der Mitte des Raums elektronische Tracks ab, an der Bar im Flur wurde Wodka ausgeschenkt und die Schlange zur einzigen Toilette stockte. Die Bänke aber standen hinterher da, als sei nichts gewesen.
Die Zahl derer, die seit den Tagen in der Times Bar zu ihnen kommen, schätzt Calla Henkel auf 50, vielleicht aber auch 100. Viele sind wie sie in den 80ern geboren. Wie New York vor 30 Jahren war, wissen sie nur aus Filmen. Was suchen – und finden – sie in Berlin, abgesehen von den immer noch erschwinglichen Mieten im Vergleich zu London und New York? „Die Menschen gehen hier flexibler mit ihrer Zeit um“, sagt Henkel. „Sie sind bereit, mehr davon zu geben. Für Performanceprojekte wie unsere ist das notwendig. Es gibt hier eine größere Offenheit für Dinge, die nicht gradlinig ablaufen.“ Berlin, sagen beide, sei ihr Zuhause. „Wir wüssten nicht, wo wir sonst hingehen sollten.“
Bald zieht der Luxus ein
Wenn am 16. Mai die Maler kommen, um an den Wänden der Schinkel-Klause mit grauer Farbe die Spuren der Zeit zu tilgen und die Eigentümer und Erstmieter die Luxusneubauten gegenüber beziehen, wenn in dem Baustellenwirrwarr nachts Ruhe einkehren muss, sobald die herrschaftlichen Fensterläden einklappen, dann werden Calla Henkel und Max Pitegoff schon in den letzten Zügen ihres nächsten Projekts liegen, ein Beitrag zur Berlin Biennale, die am 4. Juni eröffnet wird. Sie haben dafür unter anderem mit dem früheren US-Botschafter John Kornblum gesprochen, der den Umzug von Bonn nach Berlin durchführte und das viel kritisierte Botschaftsgebäude am Pariser Platz bauen ließ. Ihr Beitrag kreist um die Frage, wie US-amerikanische Präsenz in Berlin aussieht. Und er handelt von ihnen selbst: „Es geht auch um uns als Amerikaner, und darum, was das bedeutet.“
Info
Die Schinkel-Klause wird noch bis 15. Mai von Calla Henkel und Max Pitegoff bespielt
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