Im Berliner Stadtmuseum, dem Ephraim-Palais, erzählt eine Ausstellung im 30. Jahr der Wende von „Ost-Berlin“. Auf drei Stockwerken werden sehr unterschiedliche Schlaglichter auf die Jahre zwischen 1960 und 1989 geworfen. Die Schriftstellerin Annett Gröschner saß im Beitrat der Ausstellung und hat für diese gemeinsam mit der Kunsthistorikin Christina Tilmann und Studierenden der Universität der Künste das Printmagazin Ost*Berlin erarbeitet. Dabei stellte sie fest, wie anders die jüngere Generation auf vieles blickt. Mit zwei der Studierenden, Marie Hecht und Simon Rayß, hat sie die Ausstellung für den Freitag besucht.
der Freitag: Frau Hecht, Frau Gröschner, Herr Rayß, welches Exponat hat auf Sie jeweils den stärksten Eindruck gemacht?
Simon Rayß: Der Raum, in dem man sich vor einer Videowand in einer alten Straßenbahn wiederfindet und die Greifswalder Straße runterfährt. Ich bin 1983 in Ost-Berlin geboren, aufgewachsen in Lichtenberg, ich habe die DDR noch ein paar Jahre erlebt. Das Geräusch von dem Klingeln der Straßenbahntür hat Erinnerungen geweckt.
Marie Hecht: Ich bin in Westdeutschland im Jahr der Wende geboren, ich habe keine direkten Erinnerungen, aber ich mag die Rakete aus dem Vergnügungspark im Plänterwald. Als ich vor eineinhalb Jahren nach Berlin kam, habe ich in Treptow gewohnt. Sie stand da im Wald und immer mal wieder habe ich geschaut: Ist sie noch da? Ich finde es faszinierend, dass ein Objekt in eine Ausstellung kommt und eine ganze Geschichte mitbringt.
Annett Gröscher: Was mich fasziniert, sind die Treppenstufen. Im Stadtmuseum arbeiten sehr viele Leute, ob nun als Aufsicht, in den Büros oder in der Restaurierung, die im Osten sozialisiert worden sind. Die Frage war, wie bindet man die ein. Es gab eine Umfrage unter den Mitarbeitern, welche Worte sie mit Ost-Berlin verbinden. Die Worte stehen jetzt auf den Stufen. Das fängt unten an mit dem 4. November und geht dann über Oberschweineöde, Konnopke bis zu Unbeschwerte Jugend. Jeder hat so seine Assoziationen.
Konnopke gibt es heute noch, anderes kennt man als West-Sozialisierte oder Nachgeborener nicht mehr.
Gröschner: Einiges musste ich vorhin erklären. Was war das noch gleich?
Rayß: Das Schwarztaxi.
Gröschner: Die DDR-Form von Uber. Weil es so wenig Taxis gab, wurde stillschweigend geduldet, dass man mit dem Auto durch die Stadt fuhr und Menschen mitnahm und da absetzte, wo sie hinwollten gegen eine Spende. Man konnte da richtig viel Geld mit verdienen, das war unversteuert.
Wie buchte man so ein Schwarztaxi?
Gröschner: Man hielt die Hand raus, und wer gehalten hat, hat gehalten. Das war toll, man hätte daraus einen Film wie „Taxi Teheran“ machen können, der die Gesellschaft anhand eines Taxis erzählt. Ein Freund ist Schwarztaxi gefahren, mit dem bin ich wie eine Reporterin für ein paar Nächte mitgefahren. Da fuhren so viele verschiedene Leute mit, und man kam in Gegenden, wo man sonst nie hinkam. Meistens ganz besonders weit draußen. Wenn man Pech hatte, bekam man kein Geld. Die Fahrgäste waren ja nicht verpflichtet zu bezahlen.
Frau Hecht, als jemand, der erst kurze Zeit in Berlin ist: Hat sich Ihr Bild von Ost-Berlin durch die Ausstellung verändert?
Hecht: Ich habe längere Zeit in Leipzig gelebt und hatte eher ein sächsisches DDR-Bild. Mir war dieser Ost-West-Bezug nicht klar. Dass man sich in Berlin so viele Jahre über die Grenze hinweg noch austauschte und dass der Bezug als Großstadt zum Rest der Welt ein ganz anderer war.
Rayß: Ich habe vieles nicht wiedererkannt. Es werden viele Sachen ausgestellt, die heute als typisch Ost-Berlin gelten. Aber ich hatte wenige Aha-Erlebnisse. Wir haben in Altbauten in Lichtenberg gewohnt, das war nicht die klassische Platte, es gab auch nicht diese klassischen DDR-Tapeten. Mein Zuhause hat vielleicht nicht dem Bild entsprochen, dass man heute vom Ost-Berliner Alltag hat. Was für mich präsent war – nicht aus eigener Erfahrung, sondern weil ich mich damit beschäftigt habe – waren die Bilder der Sub- und Gegenkulturen, die in der heutigen Wahrnehmung einen großen Platz einnehmen im Gegensatz zum normalen Leben.
Zu den Personen
Annett Gröschner, Jahrgang 1964, geboren und aufgewachsen in Magdeburg, lebt seit 1983 in Berlin. Sie ist neben ihrer Tätigkeit als Autorin Gastprofessorin für Kulturjournalismus an der UdK
Marie Hecht, Jahrgang 1989, ist freie Journalistin und Autorin in Berlin
Simon Rayß, Jahrgang 1983, lebt im Ostteil Berlins und arbeitet als freier Journalist
Gröschner: Das war für mich auch in der Zusammenarbeit mit den Jüngeren interessant, dass sie sich vor allem für die Minderheiten interessieren. In dem Heft, das jetzt in der Ausstellung liegt, schreiben sie über das Leben von Lesben und Schwulen, über das Unterwegssein mit dem Berliner Sinfonie-Orchester, Vertragsarbeiterinnen – das war ja alles sehr marginal damals. Die Subkultur – wir waren das eine Prozent. Im Gesamtkontext hatte das kaum Bedeutung.
Woher kommt dieser Fokus?
Hecht: Ich denke, es ist allgemein eine Tendenz gerade im Journalismus, endlich auch die Geschichten von marginalisierten Gruppen zu erzählen.
Gröschner: Das Jubiläum ist ja ein bisschen murmeltiermäßig: Man wacht auf, wieder sind fünf Jahre rum, und dann die Frage: Wie war das, als die Mauer fiel? Ich sehe da immer zwei Bilder: Das eine ist von Thomas Heise, der von Geschichte als einem Haufen spricht, nichts Linearem, und da zupft man sich das raus, was grade von Interesse ist. Und das andere ist von Jorge Luis Borges, der sinngemäß sagt, unsere Erinnerung ist immer die letzte Erinnerung an die Erinnerung. Es gab die Zeit vor zehn, 15 Jahren, als so getan wurde, als habe Helmut Kohl eigenhändig die Mauer aufgemacht. Es war damals schwer, sich dagegen zu wehren und zu sagen: Wir waren Subjekte der Geschichte und sind dann aber zu Objekten gemacht worden. Heute wird endlich zum ersten Mal ausführlicher über den Mauerfall aus migrantischer Perspektive gesprochen. In meiner Erinnerung verändert sich auch alle zehn Jahre der Blick auf bestimmte Sachen. Heute interessieren mich mehr die Großbetriebe und die Arbeiterinnen und Arbeiter als die Subkultur, die lange mein Thema war.
Hecht: Ich finde es bei den marginalisierten Gruppen interessant, nach den Verbindungen zu heute zu schauen – und was man sich zum Vorbild nehmen kann. Ein Beispiel wäre die Zeitschrift Sibylle, die für mich eine Form des Feminismus in der DDR repräsentiert, auch wenn man es nicht so nannte. Sie war künstlerisch, beteiligte Frauen als Fotografinnen, stellte das Frauenbild auch in Frage und regte dazu an, selbst Mode zu machen. Das fand ich sehr empowernd. Und die Vielfalt: Dass zum Beispiel auch schwarze Models in der Zeitschrift zu sehen waren.
Gibt es denn heute noch etwas, wogegen man anerzählen muss?
Gröschner: Für mich war es interessanter im Begleitband zur Ausstellung mal nicht zum tausendsten Mal über Prenzlauer Berg in Ost-Berlin zu schreiben, sondern über Kontinuitäten. Das waren für mich die ostberliner Kleingärten, die immer noch da sind, die früher aber eine andere Funktion hatten als in West-Berlin, weil das, was dort angebaut wurde, verkauft werden konnte. Ich habe auch geschaut: Welche Erdbeersorte ist noch da?
Gärtnern, schreiben Sie, war damals Schulfach. Gab es das zu Ihrer Zeit noch, Herr Rayß?
Rayß: Ich bin 1990 eingeschult worden, wir hatten das nicht.
Gröschner: Gibt es für dich, Simon, noch unbekanntes Terrain, mit dem man sich auseinandersetzen könnte?
Rayss: Naja, mich überrascht immer, dass die Leute erwarten, dass es so etwas Besonderes war, in Ost-Berlin aufzuwachsen. Aber ich habe die Grenze gar nicht wahrgenommen. Wir sind halt in diesen Hinterhöfen rumgekrochen und in stillgelegten Industriegebieten. Ich glaube, es ist eher die Gewöhnlichkeit des Lebens, die nicht erzählt wird.
Gröschner: Ich denke mal, so ein Leben im Einfamilienhausgürtel von Ost-Berlin hat sich von dem in West-Berlin nicht besonders unterschieden. Vor allem nicht im Habitus und in der Art der Kleinbürgerlichkeit. Selbst Reisen, da machte man dann halt die Exklusivreise in die Sowjetunion oder nach Nordkorea. Ich glaube, dass es bestimmte Sachen gab, die einfach deutsch sind.
Info
Ost-Berlin – Die halbe Hauptstadt Museum Ephraim Palais bis 9. November
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