Die Gentrifizierung findet nicht statt

Hegelplatz 1 Unsere Ressortleiterin Kultur grüßt aus Liverpool
Ausgabe 34/2019
Straßenzug in Liverpool. Unsere Ressortleiterin findet: Der Turner-Preis wäre verdient
Straßenzug in Liverpool. Unsere Ressortleiterin findet: Der Turner-Preis wäre verdient

Foto: Paul Ellis/AFP/Getty Images

Neulich habe ich in dieser Kolumne gefragt, ob Museen Urlaub machen sollten. Ich fand nein, es ging um den Louvre, der Kreuzfahrten anbieten will. Jetzt bin ich selbst im Urlaub, in einem Kunstwerk, das 2015 mit dem Turner-Preis ausgezeichnet wurde. Konsequent ist das nicht, aber wenigstens bin ich in Liverpool und nicht im Golf von Hormus.

Den Turner-Preis bekam 2015 das Kollektiv Assemble, was umstritten war, es handelt es sich um den wichtigsten Preis für zeitgenössische Kunst und Assemble sind keine Künstler im engeren Sinne sondern Architektinnen, Designer und Aktivistinnen. Ausgezeichnet wurden sie für ihr Projekt „Granby Four Streets“ und dass ich hier vier Jahre später Urlaub mache, ist dem Zufall geschuldet und Airbnb.

Assemble haben mit den damals letzten Anwohnern vier Straßen im Stadtteil Toxteh wiederbelebt. Die Häuser sahen und sehen so aus: Zwei Stockwerke, roter Klinker, unten ein breiter Erker. Als der Guardian-Journalist Ed Vuillamy 2011 diese Straßen aufsuchte, schrieb er, man trete in ein Grab. Vulliamy war damals wegen des 30. Jahrestags der Toxteth Riots da, den Straßenschlachten zwischen Polizisten und der schwarzen Community rund um die Granby Street. An ein paar Häusern in der Nebenstraße lässt sich noch ablesen, was Vulliamy gesehen haben muss: Alle Fenster sind vermauert, aus den Schornsteinen wächst Gras.

Wenn ich vom Esstisch aufschaue, sehe ich durch den jetzt blau gestrichenen Erker auf eine Strasse, in der bunte Wimpel hängen, durch die Kids mit Rädern und Rollern düsen. Es riecht nach Lack, weil vorne an der Ecke ein neues Wandbild aufgebracht wird: ein Mädchen in FC Liverpool-Klamotten, wie viele sie hier tragen; man sieht hier auch Fünfjährige in Fußballstutzen und Hijab; der, erfahre ich, ist im Viertel erst mit der jüngsten Generation aus Somalia und dem Jemen aufgetaucht. Vorher lebten hier vor allem die Enkel und Ururenkel von Seeleuten, die seit Ende des 19. Jahrhunderts aus Westafrika gekommen waren. Vorn an der Ecke ist auch der Granby Workshop von Assemble, dort werden die bunten Fliesen hergestellt, die auch hier im Haus oben im Bad verbaut sind.

Faszinierend ist, dass trotz Turner-Preis kein Neu-Bullerbü für die gehobene Mittelschicht entstanden ist. Die Läden auf der Granby Street lassen sich immer noch an zwei Händen abzählen (in den 80ern waren es 60). Es gibt zwei Continental Stores und einen Imbiss, der im Sortiment hat, was eine Fritteuse hergibt. Den Künstlern, die hier auch leben, sind keine Bioläden und Pop-Up-Stores gefolgt. Stattdessen ist ein Mikrokosmos entstanden, der Widersprüche aushält, die andernorts verschwinden. Von mir bekämen Assemble dafür erneut den Turner-Preis.

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Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin „Kultur“

Christine Käppeler leitet seit 2018 das Kulturressort des „Freitag“, davor schrieb sie als Redakteurin vor allem über Kunst und die damit verbundenen ästhetischen und politischen Debatten. Sie hat Germanistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften und Journalismus in Mainz und Hamburg studiert und nebenbei als Autorin für „Spex. Das Magazin für Popkultur“ gearbeitet.

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