Für Hendrik Folkerts hat die Documenta in Athen etwas früher als für alle anderen eröffnet. Nicht erst am Samstag, dem 8. April, wie es auf den schwarz-weißen Plakaten überall in der Stadt steht. Und auch nicht am Donnerstag, dem 6., dem Preview-Tag für Journalisten und andere Menschen vom Fach. Für den Niederländer Folkerts, einen von sechs Co-Kuratoren des polnischen Documenta-Leiters Adam Szymczyk, hat die Schau Mittwochmorgen um 7 Uhr begonnen: Zwei Delegierte der Maori kamen ins EMST, das griechische Nationalmuseum für Zeitgenössische Kunst, um den zwölf Meter breiten Fotodruck des Künstlers Nathan Pohio einzuweihen.
Am Abend sitzt Folkerts im Innenhof der Konzerthalle Megaron, einem der vielen Nebenschauplätze der D
;tze der Documenta, tags darauf wird hier die Pressekonferenz stattfinden. Folkerts, buntes Mikrofasersweatshirt, beiger Trenchcoat, zündet sich eine Zigarette an. Gerne hätte er jetzt auch einen Drink, aber es gibt hier noch nicht einmal Licht. Nathan Pohios Druck zeigt den Besuch des damaligen britischen Generalgouverneurs 1905 in einer kleinen neuseeländischen Provinz. „Wenn das Werk eines Maori Neuseeland verlässt, ist es Tradition, es an seinem neuen Ort willkommen zu heißen“, erklärt Folkerts die morgendliche Zeremonie. Eine Frau sang im Museum, um das Bild in Athen zu begrüßen. Als sie in die Eingangshalle trat, habe sie geweint. „Sie sagte, sie könne die abgebildeten Vorfahren sprechen hören.“ Für Folkerts brachte dieser Moment vieles auf den Punkt, was die Kuratoren mit dieser Documenta anstreben, die erstmals seit ihrer Gründung 1955 nicht nur in Kassel sondern auch in Athen stattfindet: auszuloten, was es in einer globalisierten Welt bedeutet, an einem Ort zu Gast zu sein. Den Nachhall der Geschichte zu erkennen.Es riecht nach OlivenFolkerts war in den vergangenen drei Jahren im Auftrag der Documenta in Singapur, Vietnam, Kambodscha, Thailand und Neuseeland, um Künstler zu treffen und einzuladen. „Die Documenta ist keine europäische Ausstellung“, betont der Kunsthistoriker. Früh schon gab es zwei Slogans, die diese Documenta begleiten: den Arbeitstitel Learning from Athens und den Titel der Publikationsreihe South as a State of Mind – „Lernen von Athen“ und „Der Süden als Geisteszustand“. Folkerts sagt: „Wir haben den Lernbereich ausgedehnt.“ In der Eingangshalle des EMST riecht es intensiver nach Oliven als auf dem zentralen Markt in der Athinas-Straße. Unter Nathan Pohios Fotodruck steht ein bis zum Rand gefülltes Metallbecken, das Teil des Werks Payment of Greek Debt to Germany with Olives and Art der Argentinierin Marta Minujín ist. Doch es gelte auch für diese Documenta: „Sie ist keine thematische Schau. Viele denken, es sei eine Ausstellung über die Wirtschafts- und Flüchtlingskrise. Uns ist wichtig, sehr viel weiter zurückzuschauen. Es geht uns auch um kulturelle Sehnsüchte, Projektionen und eine Abwertung, die allein auf finanziellen Werten basiert.“ Folkerts verabschiedet sich, er muss noch einmal ins Museum fahren, die letzten Schilder vor der Eröffnung anbringen.Nur wenige hundert Meter von der Konzerthalle entfernt eröffnet an diesem Abend Griechenlands wichtigste Stiftung für zeitgenössische Kunst, die DESTE-Foundation, eine Gruppenausstellung ihrer Preisträger seit 1999. Die neoklassizistische Villa, die ansonsten das Museum für kykladische Kunst beherbergt, ist von Journalisten, Galeristen, Sammlern und Kuratoren geflutet, im Hof wird Wein ausgeschenkt und eine trübe, zitronige Flüssigkeit in bauchigen Gläsern. Zwei der ausgestellten Künstler sind auch auf der Documenta mit Werken vertreten: Georgia Sagri und Angelo Plessas. Plessas wird in der Athener Kunsthochschule, neben dem EMST einer der Hauptorte der Documenta 14, eine Multimediaarbeit ausstellen, die um seine Nachbarin kreist, die in den 1940er Jahren während der deutschen Besatzung als Spionin Kampfflugzeuge ausspähte. Plessas sagt: „Die Documenta kommt für uns im richtigen Moment. Der Staat behandelt Künstler nicht besonders gut, es ist kein Geld da. In der Kunstszene herrschte das Gefühl vor, zu scheitern. Die Documenta kommt im richtigen Moment. Finanziell, künstlerisch, aufmerksamkeitstechnisch.“Diese Sicht teilen nicht alle. Die Kuratoren der parallel eröffnenden Athen-Biennale warfen dem Team der Documenta vor, es sei unsensibel, mit ihrem Megaevent in die krisengeplagte Stadt zu kommen und sie als Kulisse zu benutzen. „Nicht alle haben bekommen, was sie wollten“, sagt Plessas lapidar. „Jetzt trollen sie die Documenta.“ Aber die Documenta sei kein Arzt, der alle Probleme lösen könne.Spricht man Giorgos Kaminis auf den Arbeitstitel der Kunstschau an, sagt er: „Von Athen lernen, heißt in gewisser Weise nicht zu lernen. Warum? Wir haben erlebt, wie sich eine Finanzkrise in eine soziale Krise verwandelt, weil die richtigen Antworten nicht gefunden wurden.“ Kaminis ist Verfassungsrechtler, 2010 wurde er als parteiloser Kandidat der Sozialisten Bürgermeister von Athen. „Ich hoffe, wir haben die Chance zu zeigen, wie lebendig Athen ist und wie hart wir daran arbeiten, die Krise zu bewältigen.“ Ungewissheiten, sagt er, könne man nur mit festen Prinzipien begegnen. Welche das sind? „Solidarität, die freie Meinungsäußerung.“ Das gelte übrigens auch für die Documenta: „Vielleicht werden einige Menschen sich von Werken provoziert fühlen. Auch dann müssen wir die freie Meinungsäußerung verteidigen.“Ungewissheiten sind auf dieser Documenta eine Art prekärer Dauerzustand. Manchmal werden sie sehr greifbar. Etwa in Naeem Mohaiemens Film Tripoli Cancelled, der in der Ruine eines verlassenen Athener Stadtflughafens spielt, wo ein Mann auf seine Art seit 3.575 Tagen den Betrieb am Laufen hält. Verlässt man den Vorführraum im EMST und steigt hinauf aufs Dach, so hat man nicht nur einen atemberaubenden Blick auf die Akropolis, sondern auch auf ein halb entkerntes Bürogebäude auf der anderen Straßenseite – Enoikiazetai, „zu verkaufen“ –, an dessen Front der Schriftzug von Olympic Airways bröckelt. Und dann erfährt man, dass selbst der elegante Museumsneubau unter einem eigentlich leer steht. Seit einem Jahr ist das EMST bezugsfertig, doch es ist kein Geld für die Betriebskosten und das Personal da.Dann wieder sind die Formen selbst prekär. Die chilenische Künstlerin Cecilia Vicuña hat für die Ausstellungen ein Quipu geschaffen, ein blutrotes Gebilde aus ungesponnener Wolle, das von der Decke bis zum Boden reicht. Seit 30 Jahren arbeitet die 68-Jährige mit diesem Material: „Wenn Sie es berühren, fällt es auseinander. Es ist einer der prekärsten Stoffe überhaupt.“ Die Menschheit, sagt Vicuña, sei gescheitert. „Alle Ideologien haben versagt.“ So erschreckend dieser Moment sei, erinnere er sie an eine Geburt: „Das Kind weiß nicht, was es erwartet, die Mutter weiß nicht, was sie bekommt. Vielleicht sind wir endlich offen für etwas Neues.“Kaum Griechen dabeiFür die Athenerin Eleni Molyva ist die Documenta 14 selbst eine Blackbox. Die 33-Jährige hat Malerei studiert, sie verdient ihr Geld mit einem ganz anderen Job am Theater, nebenbei illustriert sie Kinderbücher. Ihr Freund Christos unterrichtet an der Athener Kunsthochschule und wird von einer Galerie in Psirri vertreten, einem der gentrifizierteren Innenstadtviertel. „Es war komplett mysteriös“, sagt sie. „Es gab lange vorher Gerede über die Documenta, aber keiner wusste, was geplant ist. Irgendwann hingen überall Plakate, aber wir wussten immer noch nicht mehr. Dabei sind wir Künstler.“Was sie dann an den Preview-Tagen erlebte, fand sie nicht weniger seltsam. „Auf Eröffnungen trifft man in Athen meistens dieselben Leute. Aber hier waren keine Griechen.“ Die einzige Person, die sie tagsüber im EMST und abends bei einer der Partys im Club six d.o.g.s zufällig traf, war eine deutsche Journalistin, der sie vor sechs Jahren ihre Wohnung über Airbnb vermietet hatte. „Das Üble ist, dass in Griechenland nur wenige internationale Kunstprojekte stattfinden“, sagt Molyva. „Es wäre eine große Chance. Aber wer sonst nicht ins Museum geht, wird auch jetzt nichts davon mitbekommen.“Wenn die Documenta 14 Mitte September in Kassel schließt, wird es interessant sein zu sehen, wer an der größten und längsten Performance dieser Kunstschau teilgenommen hat. Wer also Athen, und wer Kassel besucht hat, und im Ideallfall eben beide Orte dieser „bipolaren Struktur“, wie Kurator Folkerts es nennt. Im Moment deutet wieder einmal vieles auf eine starke Dominanz des Nordens hin.
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