Finger weg von meiner REM-Phase

Musik Max Richter hat ein achtstündiges Werk mit dem Titel „Sleep“ komponiert. Ein Durchschlafversuch
Ausgabe 39/2015
Verschlafen erwünscht: Max Richter interessiert, wie wir bei schwindendem Bewusstsein auf Musik reagieren
Verschlafen erwünscht: Max Richter interessiert, wie wir bei schwindendem Bewusstsein auf Musik reagieren

Foto: Christian Thiel/imago

Schlecht geschlafen? Oft meinen wir damit eigentlich, dass wir lange wach gelegen haben. Was aber schlechter Schlaf wirklich ist, weiß ich erst, seit ich Sleep von Max Richter gehört habe.

Der Komponist Max Richter ist vor allem für Filmsoundtracks bekannt und für seine Auffrischung von Vivaldis Vier Jahreszeiten, die 2012 in der Reihe Recomposed der Deutschen Grammophon erschien. Richter griff damals in Vivaldis Partitur ein, er loopte markante Passagen, stellte Motive frei und spann sie weiter. Er brachte den Hörer dazu, wieder richtig hinzuhören.

Sein neues Werk Sleep fordert etwas anderes. Acht Stunden dauert es, und es soll den Schlaf begleiten. Richter interessiert, wie wir bei schwindendem Bewusstsein auf Musik reagieren. Und er versteht Sleep als ein Manifest für Entschleunigung. Dafür nimmt er in Kauf, dass ein Großteil seiner Arbeit und der seines Ensembles verschlafen wird. Zwei Violen, eine Bratsche, zwei Celli und eine Sopranistin sind zu hören, dazu Klavier, Orgel und Synthesizer, von Richter selbst gespielt, sowie diverse elektronische Sounds. Als Vorbild nennt er die Goldberg-Variationen, die Bach um 1741 für einen Schlaflosen komponiert haben soll. Richter arbeitet aber auch mit Flächen, wie man sie aus der elektronischen Musik kennt, mit monotonen, tiefen Cellostrichen und tastenden hohen Tönen.

Rauschen im Ohr

Wie viele Menschen schlafe ich selten acht Stunden. Es ist schließlich 2.00 Uhr an einem Samstag, als ich Play klicke. Sleep gibt es nur als Download, sinnvollerweise, wer kann im Schlaf schon CDs wechseln oder Platten umdrehen. Richters Schlaflied beginnt mit weichen, volltönenden Klavierakkorden, aus denen sich ein Motiv schält. Ich höre noch, wie die Streicher lauter werden, dann bin ich weg.

3.22 Uhr. Die Streicher flirren. Sie erinnern mich weniger an Bach als an La Mort de Molière von Robert Wilson, an die stoische Repetition der Orgelläufe, die Philip Glass dafür komponiert hat. Meine Beine fühlen sich an, als hätte jemand ein Klavier auf ihnen abgestellt, mein Mund ist trocken. Als Nächstes stehe ich am Eingang einer Konzerthalle, die eigentlich ein Modell des Opernhauses von Sydney ist. Ich will eine Karte abholen, doch ich komme zu spät. Weinend breche ich auf dem Kassentisch zusammen. Mein Wecker zeigt kurz nach vier an, meine Augen sind nass, ich muss wirklich geweint haben. Ich könnte einen Schluck Wasser gebrauchen, doch ich fühle mich zu gleichgültig, um in die Küche zu gehen. Die Orgel ist auf Einsamkeit gepolt, etüdenhaft kreist sie um eine Tonfolge – ist es noch dieselbe? Wortlos fällt die Sopranistin ein, in schmerzhaft hohen Tönen, die höchstens Trost in anderen Welten versprechen. Mir dröhnt der Kopf. 6.24 Uhr. Ich muss an ein Werk des Künstlers Stefan Marx denken. Eine schwarze Wolldecke, in weißen Buchstaben sind die Worte And suddenly it’s morning eingewoben. Noch ist es dunkel. Der Gedanke an die marxsche Decke wirkt wie ein Versprechen. Als ich aufwache, läuft der letzte der 31 Titel. Was bleibt, ist ein Rauschen im Ohr.

Ich weiß von zwei Personen, die vor mir eine Nacht mit Sleep verbracht haben. Beide fühlten sich mies. Ich glaube nicht, dass es an Max Richters Komposition liegt. Sie macht nur deutlich, wie großartig Schlaf an sich ist. Lassen wir also die Finger davon. Aus gutem Grund hat sich Englischlernen im Schlaf auch nie durchgesetzt.

Sleep (eight hour version) Max Richter Deutsche Grammophon 2015

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Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin „Kultur“

Christine Käppeler leitet seit 2018 das Kulturressort des „Freitag“, davor schrieb sie als Redakteurin vor allem über Kunst und die damit verbundenen ästhetischen und politischen Debatten. Sie hat Germanistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften und Journalismus in Mainz und Hamburg studiert und nebenbei als Autorin für „Spex. Das Magazin für Popkultur“ gearbeitet.

Christine Käppeler

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