Verdammte Tür. Sie ist, wie der ganze Raum, mit Spiegeln verkleidet. Fiele die Tür ins Schloss, stünde ich in diesem Spiegelkasten bis zu den Knien in weißen Stoffwürsten mit roten Punkten, und der Blick in die Unendlichkeit wäre frei. Der achteckige Raum ist so gebaut, dass ich nur mich selbst sehen sollte, x-fach gespiegelt, meine Füße umspielt von diesem phallischen rot-weißen Meer. Aber die Tür muss offen stehen, und so spiegelt sich x-fach auch das, was sich jenseits des Türspalts befindet, eine Wand mit Erklärtexten zu dieser Schaffensphase von Yayoi Kusama (das Werk entstand 1965 für eine Galerie in New York). Dass enge, geschlossene Kammern in Ausstellungen in diesem Corona-Frühling keine gute Idee sind, versteht sich von selbst. Der Effekt aber, dass der Weg in die Unendlichkeit von Wandtexten flankiert wird, hat selbst für eine Kunstkritikerin etwas Befremdliches.
Die Retrospektive der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama im Berliner Martin Gropius Bau zeigt vier solcher Infinity Mirror Rooms, von denen Phalli’s Field der erste ist. Einige Räume weiter ist Kusama’s Peep Show or Endless Love Show (1966) einsehbar: ein sechseckiger Raum, in den zwei Personen durch zwei quadratische Öffnungen ihren Kopf stecken können. Tobias Timm schrieb vergangene Woche in der Zeit: „Plötzlich gibt es keine Grenzen mehr, keinen Lockdown, keine Infektionsschutzgesetze, keinen Markus Söder, nur ein unendliches Leuchten, kleine Lichter, wie Sterne im dunklen Universum.“ Meine Erfahrung ist eine sehr andere: Der Anblick der Lämpchen, die in allen Regenbogenfarben in wechselnden geometrischen Mustern aufleuchten, ist spektakulär. Aber in dem kosmischen Bling-Bling sehe ich eben auch, hundertfach vervielfältigt, mein Gesicht, das eine FFP2-Maske zur Hälfte bedeckt. Der Effekt, den das auf mich hat, entspricht eher einer anderen Intention, die Kusama mit Werken wie Phalli’s Field verfolgt haben soll: die Kontrolle der eigenen Angst durch tausendfache Vervielfältigung des Auslösers, dem eine Form gegeben wurde (in ihrem Fall die „Angst vor Sex“, wie Kusama in ihrer Autobiografie schreibt). Wobei das Bild, das ich erzeuge, auch etwas Albtraumhaftes hat: Corona Forever.
Dass die Pandemie die Erfahrungen einschränkt oder verändert, hat aber auch etwas für sich. Nur weil man in ein Werk wie Phalli’s Field nicht bedingungslos eintauchen kann, heißt das nicht, es ließe sich nichts darin erkennen. So wie es überhaupt eine Stärke dieser Werkschau ist, dass Stephanie Rosenthal als Kuratorin und ihr Team nicht der Versuchung erlegen sind, eine Erlebniswelt im Gropius Bau zu erschaffen. Die Ausstellung ist in weiten Teilen museal angelegt, neben beeindruckend vielen Originalen aus allen Schaffensphasen ist auch viel Einordnendes zu sehen, wie etwa Ausschnitte aus einer WDR-Doku, die 1966 anlässlich von Yayoi Kusamas erster Ausstellung in Deutschland in einer Galerie in Essen entstand. Ihre Werke, erklärt der Sprecher, während die Kamera durch die Vernissage streunt, müssten bald schon auf der Biennale in Venedig beweisen, „ob sie ernstlich an der Überwindung der Probleme der Kunst mitwirken können, ohne dass die Kunst Schaden nimmt“. Zu sehen sind mit Punkten übersäte Schaufensterpuppen, Accessoires, die mit Pasta beklebt und vergoldet wurden. Kusama selbst hält nonchalant eine gepunktete Zigarette in der Hand. Die bellenden Hunde in den Makkaroni-Jacken, von denen der Ausstellungstext zu berichten weiß, sind in dem Ausschnitt leider nicht zu sehen.
Dafür verdichtet sich in ihm vieles, was die Kunst von Yayoi Kusama ausmacht: Da sind die Punkte, die sich alle Oberflächen einverleiben und der Künstlerin zufolge seit ihrer frühen Kindheit Teil ihrer Halluzinationen sind (Kusama lebt seit 1977 in einer psychiatrischen Klinik in Tokio und hat ihr Atelier nebenan). Da ist der lustvolle Umgang mit ihren Motiven, der sich auf das Publikum überträgt (während es in Essen noch brav die Anzüge und Kostüme anbehält, wandeln sich ihre Vernissagen in Holland und den USA bald zu orgiastischen Happenings). Aber auch schon die ganz bewusste Pflege einer Marken-Identität ist offensichtlich. Als Kusama dann im Sommer 1966 in Venedig vor dem italienischen Pavillon 1.500 silberne Spiegelkugeln verteilt (Narcissus Garden) und für zwei Dollar das Stück an Besucher*innen verkauft, ist die Aktion dem Biennale-Büro zu profan für den heiligen Rasen. Heute würde man die Idee, jedem Kunstbesitz zu ermöglichen, anders bewerten. Kusamas Ausstellungsgeschichte, die der Gropius Bau nachvollzieht, umspannt 70 Jahre: Im ersten Raum hängen Zeichnungen und Malereien, die 1952 in einem Gemeindezentrum in ihrem Geburtsort Matsumoto zu sehen waren. Ihr jüngstes Werk ist im Lichthof des Gropius Baus begehbar: Gigantische pinkfarbene Tentakel räkeln sich in die Höhe, sie und der Boden sind von schwarzen Punkten übersät. Einen Tsunami, der die ganze Welt verschlingen könnte, hat Kusama ihre Kunst einmal genannt. Hier kann man sich für einen Moment wirklich in ihr verlieren. Sobald die Ausstellung wieder geöffnet werden kann.
Info
Yayoi Kusama: Eine Retrospektive Gropius Bau Berlin, bis 15. August 2021. Die Ausstellung ist aufgrund des Infektionsgeschehens in Berlin vorübergehend wieder geschlossen
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