Eine Wette, die in 33 Jahren Wetten, dass..? leider nie stattfand: Wie viele Bücher kann man anhand der Zitate erkennen, die ihnen vorangestellt sind? Mir kommt diese Idee leider auch erst jetzt, weil Silvia Bovenschen für ihr Buch Sarahs Gesetz ein Zitat von Ilse Aichinger ausgewählt hat, das so sehr auf den Punkt bringt, was folgt, dass man es nicht wieder vergisst. Insbesondere gilt das für den zweiten Satz: „Solange wir wissen, dass wir unerkundbar sind, ist Liebe.“
Silvia Bovenschen hat ein Buch geschrieben, das von ihrer Freundin, der Künstlerin Sarah Schumann, erzählt. Es ist aber auch ein Buch über sie selbst, die Autorin. 1975 begegnen sich die beiden Frauen das erste Mal: Die Autorin ist Ende 20, die Künstlerin zwölf Jahre &
;nstlerin zwölf Jahre älter als sie. Für die Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation ist Bovenschen von Frankfurt nach Westberlin gefahren. Sie hat durchgesetzt, dass sie ein Sonderheft über die Frage schreiben wird, ob es eine weibliche Ästhetik gibt. So gelangt sie eines späten Abends in die Wohnung der Künstlerin.Wie so viele Begegnungen, die ein ganzes Leben prägen werden, erscheint auch diese besonders schicksalhaft, weil sie beinahe nicht passiert wäre. Am Haus ist keine Klingel, es ist spät nachts, die Autorin erschöpft, und hätte nicht zufällig eine Telefonzelle vor dem Haus gestanden, wäre sie dankbar umgekehrt. So aber schleppt sie sich auf ihren hohen Absätzen in den vierten Stock, nur um sich von der Künstlerin dafür abschätzig mustern zu lassen. In der Wohnung sitzen ein Frankfurter Kollege und andere Kulturbetriebsmenschen schon seit Stunden, rauchen, trinken, diskutieren. Der Satz, mit dem Silvia Bovenschen ihre Ankunft in dieser Runde beschreibt, ist wie einige in diesem Buch einer für die Ewigkeit: „Es ist nicht gut, müde und mürrisch in eine Stimmung zu kommen, an der man nicht beteiligt war.“Sie ist dann aber schnell von einem Bild der Künstlerin fasziniert, einer knallbunten Collage, deren Fokus eine schöne, sitzende Frau ist. Sie entspricht so wenig den Vorstellungen der damaligen Avantgarde, dass Bovenschen sich erinnert, wie sie überlegte, ob sie „das gut finden durfte“. Lakonisch zitiert sie einen Journalisten, der sich über Sarah Schumanns Bilder empörte: „Und nie verwendet sie Packpapier.“ „Er hätte“, ergänzt Bovenschen, „auch Fett oder Filz sagen können.“ Die Kunst der Freundin spart Bovenschen in ihrer Erzählung ansonsten aus, sie holt das in einem umfangreichen Anhang nach.Hilflos, pauschal, ungenauDie Collage ist eine Ausnahme, da sie nun mal zu ihrem ersten Treffen gehört. Wie es ist, sich an einen Menschen langsam heranzutasten, ist sehr präzise beschrieben. Bovenschen erinnert sich an die ersten Male in der fremden Wohnung, als sie noch nicht weiß, dass sie bald schon erlernt haben wird, wie der Wasserboiler im Bad funktioniert und wie man die kleine Dachluke mit einer Stangenvorrichtung öffnet.Fortan teilen die beiden ihr Leben. Was eben noch fremd war, ist bald schon verinnerlicht. Wobei sich die Frau, der die Wohnung gehört, als sperriger erweist. „Meine Freundin Sarah war, als ich sie kennenlernen durfte, eine Frau, die ich nicht verstand“, schreibt Bovenschen und fügt hinzu, dass sie wohl niemals zu endgültigen Befunden über sie kommen werde. „Bei aller Liebe nicht. Und wir sollten es auch nicht wollen.“ Sie sind trotzdem seit 40 Jahren ein Paar.Ihr Verhalten ist natürlich absolut unzeitgemäß. Wir gehen heute ja davon aus, dass Partner über alles reden können müssen. Jedes Problem kann zu einem gemeinsamen Projekt werden, wenn wir uns nur öffnen. Ich musste bei der Lektüre auch an eine sehr zeitgeistige Diagnose denken, die Volker Weidermann neulich Thomas Mann und dessen Familie im Spiegel gestellt hat: Wegen ihrer „Entblößungssucht“ und des „Willens, immer alles sofort online zu stellen“, wirkten die Manns heute auf uns so modern.Sarah Schumann hingegen behält viel für sich, und Silvia Bovenschen respektiert es. Drei Kapitel sind mit Lob der Unschärfe überschrieben. Sie wolle ihre Freundin nicht „in die Säuberlichkeit eines abgespulten Lebenslaufes zwingen“, schreibt sie. Wir bekommen also nur Bruchstücke ihres Lebens erzählt, wen so etwas frustriert, für den ist dieses Buch nicht gemacht. Es verhält sich mit ihm ähnlich wie mit dem hanseatischen Du. Wir erfahren vieles über Sarah Schumann und kommen ihr auch nahe, aber die Grenze zur Vertraulichkeit wird niemals überschritten. Einmal wird sie als „eine anarchistische Preußin oder eine preußische Anarchistin“ bezeichnet, aber noch während man sich in diese schöne Formulierung verguckt, rudert die Autorin schon wieder zurück, „aber bitte sehr, das ist noch sehr hilflos, pauschal und ungenau (rückblickend beurteilt sogar primitiv, auch ganz falsch, aber irgendwie musste ich ja ins Vage hinein anfangen)“.Das Buch lebt auch davon, dass es mehr Fragen als Gewissheiten formuliert. Im Zweifel für den Zweifel, hieß das vor einigen Jahren in einem Lied von Tocotronic. Und noch etwas ist in diesem Verhältnis anders, als es allgemein empfehlenswert erscheint. „Wir haben das nie beredet, das, was wir für uns oder für andere sind“, schreibt Bovenschen. Manchmal nenne sie es Liebe, nur damit andere nicht denken, sie wolle etwas verbergen oder verschleiern. Weil Bovenschen auch mit den Worten sehr umsichtig ist, findet sie für ihre Partnerschaft die schöne Formulierung „zementfrei und ohne Etikett“. Und dann liest man staunend von der Loyalität zwischen diesen beiden Frauen, die sehr viel überzeugender wirkt als Liebesschwüre. Davon, wie Sarah Schumann immer an der Seite ihrer Freundin war, in allen Momenten, „in denen sie ihr Körper verraten hat“. Denn bei Silvia Bovenschen wurde schon mit 25 Jahren multiple Sklerose diagnostiziert, später erkrankte sie zudem an Krebs. 2002 gab sie Frankfurt deshalb auf und zog endgültig zu Schumann nach Berlin. „So kam meine schwerste Zeit (Krankheit). So kam meine glücklichste Zeit (Sarah)“, schreibt sie nüchtern.„Vielleicht beginnt das Unglück in dem Augenblick, in dem einer den anderen zu durchschauen glaubt“, so lautet der erste Satz des Zitats von Ilse Aichinger. Bovenschens Buch handelt von zwei Frauen, die sich gegen diese Anmaßung entschieden haben.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.