Eines der unangenehmsten Gefühle überhaupt ist, ein Kind zu enttäuschen. Kürzlich ist mir das zwei Mal passiert, in diese Situation brachte mich der Künstler Tino Sehgal. Sehgal ist seit einigen Jahren sehr populär. Er führt seine Werke in Museen, bei Biennalen und auf Kunstmessen auf, dort werden sie auch verkauft, was er wiederum in einer Performance verarbeitet hat, die This is Competition heißt.
Fünf Werke von Tino Sehgal sind derzeit im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen, rund um den Lichthof wird dort nun gesungen, debattiert, geknutscht und getanzt. Im dritten Raum stellte sich eine Elfjährige als Annlee vor. Das Mädchen erzählte die Geschichte der Figur, die sie nun war: 1999 hatten zwei französische Künstler die Rechte an einem Manga-Charakter gekauft und diese an andere Künstler weitergereicht, die Annlee in Bilder und Installationen einbanden. Das Projekt war schon beendet, als Tino Sehgal entschied, Annlee zum Leben zu erwecken. Das Kind, das nun Annlee war, erzählte diese komplexe Genese in sehr erwachsenen Worten, dann sah es die Besucher an und fixierte schließlich mich: „Where do you come from?“
Es gibt auf diese Frage eine sehr einfache Antwort, sie steht auf meinem Personalausweis. Und es gibt das Rätsel der menschlichen Existenz. Das Kind sah mich an, ich starrte zurück, es schaute, ich starrte, bis es aufgab und meine Nachbarin fragte. „Berlin“, sagte sie, alle atmeten hörbar auf, nur ich fühlte mich wie eine Kinderquälerin. Ich zwang mich, noch eine Anstandsminute zu bleiben, dann floh ich in den Lichthof, wo sich ein Paar auf dem Boden wälzte, er lag auf dem Rücken, sie griff ihm in den Schritt.
Das Werk heißt The Kiss, und es ist nicht nur ästhetisch sehr ansprechend, sondern auch lustig, denn das Paar führt sehr konzentriert alle möglichen aus der Kunstgeschichte bekannten Posen von Rodin bis Koons aus. Wie alle Sehgal-Interpreten sind ihre Bewegungen verlangsamt, eine eigene Sehgal-Zeit entsteht so, Ende ungewiss. In der Pressekonferenz war zuvor der Soziologe Gerhard Schulze zitiert worden, das Einzige, was sich unsere Gesellschaft nicht denken könne, sei die Ankunft, das trifft es sehr gut. Als ich sah, dass außer mir und dem Paar keiner mehr im Lichthof war, kam mir der Verdacht, dass allein meine Anwesenheit sie zwang weiterzumachen. Ein kindischer Gedanke – wenn ich die Augen schließe, hört die Welt auf sich zu drehen –, aber ich verließ trotzdem das Haus, um Sehgals Personal vorerst zu erlösen.
Es gibt ein sechstes Sehgal-Werk, das im Haus der Berliner Festspiele in Wilmersdorf besucht werden kann, und wenigstens dort wollte ich alles richtig machen. This Progress heißt es, und man wird einzeln hindurchgeführt. Ein Kind nahm mich in Empfang und wollte von mir wissen, was Fortschritt bedeutet. Ich lieferte streberhaft eine 1-a-Definition ab, wie ich fand, dann trat uns ein Teenagermädchen entgegen und fragte die Kleine, was ich ihr erzählt habe. Sie hatte echt gut aufgepasst, aber aus ihrem Mund klang es bekloppt. Einerseits, andererseits. Fortschritt ist eine tolle Sache, hätte ich einfach sagen sollen. Nimm nur die Kunst. Als ich klein war, musste ich sonntags im Museum leise sein, ich durfte nicht rennen, und die Bilder interessierten mich nur manchmal. Und heute? Laufen du und ich hier herum und sind selber Kunst. Viel besser ist das. Und man kann eine Menge dabei über sich lernen.
Info
Die Tino-Sehgal-Werkschau im Martin-Gropius-Bau Berlin läuft noch bis 8. August, This Progress bis 5. Juli
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