Am 6. Juli 1967 verliest der Literaturwissenschaftler Peter Szondi vor dem Landgericht Berlin ein Gutachten, das er für drei Flugblätter der Kommune I erstellt hatte. Es handelt sich um den sogenannten Brandstifter-Prozess, in dem Fritz Teufel und Rainer Langhans wegen Aufforderung zur Brandstiftung angeklagt sind. Szondi ist einer von neun Gutachtern, darunter auch Eberhard Lämmert, Peter Wapnewski und Alexander Kluge. Hintergrund ist ein Kaufhausbrand in Brüssel, bei dem 300 Menschen gestorben sind. Die Flugblätter stellen eine Verbindung zum Krieg in Vietnam her, der Brand wird als Happening und gelungene Aktion für das original Vietnam-Feeling gefeiert. Brüssel habe die einzige Antwort auf Vietnam gegeben: „burn! ware-house, burn!“
Alle neun Gutachter kommen zu dem Schluss, dass die Flugblätter satirischen Charakters sind. Szondi führt den Nachweis philologisch: Das erste sei ein fingierter Zeitungsartikel, das zweite eine fingierte Reklame und das dritte stelle bewusst Kausalitäten her, die so wenig den realen Gegebenheiten entsprächen, dass auch hier unmissverständlich sei, dass es sich nicht um Ansichten der Verfasser handle. Philologisch geprüft, sei die Anklageschrift eine Folge falscher Auslegungen. Interessant ist die Erwiderung der Oberstaatsanwaltschaft: Die Gutachten seien nicht sachzugehörig. Flugblätter als Texte zu behandeln, scheint ihr offensichtlich abwegig. Das Gericht kommt zu einem anderen Schluss und spricht die Angeklagten frei.
Kunst macht sich nützlich
Es wäre vielleicht hilfreich gewesen, wenn die Staatsanwaltschaft Gera im Zuge ihrer 16-monatigen Ermittlungen gegen das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) ein paar künstlerische Gutachten eingeholt hätte. Von Theatermachern und Intendanten, die von der Sache etwas verstehen.
Seit November 2017 wurde gegen das ZPS wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ nach §129 Strafgesetzbuch ermittelt. Der Fall ist auch deshalb so brisant, weil er die Ermittler mit weitreichenden Befugnissen ausstattet: Telefonüberwachung, Verkehrsdatenerhebung, Online-Durchsuchung mit Staatstrojanern, Abhören inner- und außerhalb der Wohnung. Das mögliche Strafmaß: fünf Jahre Haft.
Auslöser war die Aktion Holocaust-Mahnmal Bornhagen: Im November 2017 errichtete die Künstlergruppe auf dem Nachbargrundstück von Björn Höcke einen Miniatur-Nachbau des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Eine bildmächtige Aktion, die darauf reagierte, dass Höcke das eigentliche Mahnmal als „Denkmal der Schande“ bezeichnet hatte, das sich die Deutschen „ins Herz ihrer Hauptstadt gepflanzt“ hätten. Das ZPS erklärte damals außerdem, es habe den AfD-Landeschef im Rahmen seiner Aktion „Zivilgesellschaftlicher Verfassungsschutz“ vom Nachbargrundstück aus seit Monaten observiert. Höcke könne die Überwachung stoppen, indem er vor einem der beiden Denkmäler auf Knien für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs um Vergebung bitte.
Am Montag wurde das Verfahren gegen die Künstlergruppe eingestellt, der zuständige Staatsanwalt mit anderen Aufgaben betraut. Alles deutet darauf hin, dass er in der Sache befangen war, er soll an die thüringische AfD gespendet und Verfahren gegen Rechtsextreme mit absurden Argumenten eingestellt haben.
Zynisch könnte man sagen, dass die Aktion des Zentrums für Politische Schönheit erst durch die Intervention der Staatsanwaltschaft ein voller Erfolg geworden ist: Aktionskünstler kündigen an, Rechtsradikale in Thüringen zu überwachen, weil der Staat hier aus ihrer Sicht versagt – und die Antwort ist, dass sie selbst überwacht werden. Nebenbei fördert die Aufklärung der Affäre Hinweise auf rechte Umtriebe in einer Behörde zutage. Besser hätte es für die Künstler doch eigentlich nicht kommen können.
Wer so argumentiert, verkennt, wie ungleich die Gegner sind – und ihre Mittel. Auf der einen Seite die ästhetische Praxis einer Künstlergruppe, die bewusst mit Behauptungen spielt, die dadurch eine gewisse Plausibilität erhalten, dass es eine Komponente gibt, die ins Werk gesetzt wird: Das Stelenfeld vor Höckes Haus, der Tigerkäfig 2016 in Berlin-Mitte, in dem Geflüchtete sich fressen lassen sollten, die Maske eines Online-Prangers im Internet. Der Rest, zu diesem Schluss würde jedes künstlerische Gutachten kommen, bleibt ein Was-wäre-wenn. Demgegenüber steht ein Staat, der von Amts wegen mit dem größtmöglichen Besteck ermittelt.
Das ZPS hat bereits Ende 2017 ein Video veröffentlicht, in dem es seine Observation erläutert. Es ist im Stil der Lach- und Sachgeschichten der Sendung mit der Maus gehalten, die erklären, wie Streifen in die Zahnpasta oder Löcher in den Käse kommen. Die Überwachungsmethoden des ZPS werden dort so erläutert: zwei billige Trenchcoats, ein Kollege in einem Tarnanzug und ein paar Videoschnipsel, die sie einem ZDF-Beitrag entnommen haben, für den Höcke beim Spaziergang rund um sein Haus gefilmt wurde. Die Überwachung war offensichtlich so real wie die Gefahr, dass bei der Aktion Flüchtlinge Fressen einer der vier Tiger wirklich zum Zug gekommen wäre. Es gibt in Kenntnis des Werks der Gruppe keinen Grund, daran zu zweifeln.
Spricht man dieser Tage mit dem Dramaturgen Carl Hegemann über die Kriminalisierung künstlerischer Aktionen, erzählt er als Erstes von einem Artikel, den er gerade für einen Katalog fertiggestellt hat. Sein Titel: Warum Christoph Schlingensiefs Aktionskunst heute wahrscheinlich keine Chance mehr hätte. Hegemann hat viele Jahre mit Schlingensief gearbeitet. „Das Strafrechtliche“, sagt er, „hat damals eine geringe Rolle gespielt.“ Bekannt ist, dass Schlingensief und der Schauspieler Bernhard Schütz 1997 während der Aktion Mein Filz, mein Fett, mein Hase – 48 Stunden Überleben für Deutschland auf der Documenta X von der Polizei abgeführt wurden, nachdem sie „Tötet Helmut Kohl“ skandiert hatten. Die Konsequenz war ein Ordnungsgeld wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt. Kohl hingegen, sagt Hegemann, habe die Tötungsaufrufe klar unter Kunstfreiheit verortet und „offensiv nie etwas gemacht“. Damals sei man noch bereit gewesen, die Freiheit der Kunst hochzuhalten. Dass sich das ändert, schreibt Hegemann auch der Kunst selbst zu, die sich zunehmend instrumentalisieren ließe: „Die Künstlerinnen und Künstler unterwerfen sich den Sachzwängen. Sie legitimieren ihre Kunst nicht mehr ästhetisch, sondern moralisch, politisch oder ökonomisch.“ Die Kunst und das Theater versuchten, ein nützlicher Teil der Gesellschaft zu werden – und nähmen dafür in Kauf, auf die Grenzenlosigkeit der Kunstfreiheit zu verzichten. „In dem Moment ist es eine Aktion wie jede politische Aktion“, sagt Hegemann. „Man muss sie nicht mehr schützen.“
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die künstlerischen Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit durchweg politisch-moralisch grundiert sind. So anarchisch sie in der Wahl ihrer Mittel oft sind, haben sie immer eine klare Message. Interessant ist aber, dass ihr Kunstcharakter von der Presse oft dann in Frage gestellt wird, wenn es um den imaginären Teil der Werke geht. „Höcke soll auf die Knie gehen? Ist das Kunst?“, schrieb etwa die Welt im November 2017 unter der Dachzeile „Performance oder Erpressung?“.
Surrealismus und Terror
Karl Heinz Bohrer veröffentlichte im Oktober 1969 im Merkur einen Aufsatz mit dem Titel Surrealismus und Terror, in dem er den Brandstifter-Prozess unter dem Gesichtspunkt der Bilder betrachtet, die in den Flugblättern erzeugt werden. Er will darin nicht weniger als die „Renaissance surrealistischer Motive und Verhaltensweisen“ erkennen. „Das Flugblatt“, schreibt er, „war in dem Grade ernst, das heißt wortwörtlich gemeint, wie eine literarische Formel das sein kann, die nicht Befehl, Aufruf oder Kommando ist, vielmehr auf literarische Weise versucht, politische Zusammenhänge darzustellen; dabei aber nicht nur mit Informationen arbeitet, sondern gleichzeitig mit dem unterschwelligen Reiz, dadurch einen ,surrealistischen‘ Vollstreckungsbefehl zu erteilen, der weiß, dass er nicht vollstreckt werden kann.“ Ersetzte man „literarisch“ durch „künstlerisch“, wäre man wieder bei der Aktion des Zentrums für Politische Schönheit. Wo Bohrer aber von einer „Renaissance surrealistischer Motive und Verhaltensweisen“ spricht, kann man heute für die Kunst das Gegenteil konstatieren: Sie muss sich ständig an der Realität messen lassen und unterwirft sich diesem Diktat auch selbst. Im Zweifel macht sie das zu einer leichten Beute.
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