Langer Blick aufs Kunst-Relikt

Ausstellung Die Neue Nationalgalerie in Berlin zeigt ein seit 1999 konserviertes Atelier des Künstlers Paul McCarthy. Es steht goldrichtig an diesem Ort

Wer heute das Atelier eines – auch ökonomisch – erfolgreichen Künstlers besucht, stößt mit großer Wahrscheinlichkeit auf hohe, helle Räume, ein gutes Dutzend Angestellte und vermutlich sogar auf einen Koch. Paul McCarthy, 1945 in Salt Lake City geboren, spielt schon lange in dieser Liga. Der US-Künstler, der in den siebziger Jahren zunächst die Körper anderer als Pinsel und Leinwände entdeckte und dann den eigenen Kopf erst in Farbe und schließlich in Fäkalien tunkte, ist vor allem auch für seine späteren großformatigen Skulpturen bekannt, wie den Kabouter Buttplug, einen Weihnachtsmann mit Anal-Sexspielzeug in der Hand oder Static (Pink), die rosafarbene Statue eines deformierten George W. Bush, der inmitten von Unrat Sodomie mit einem toten Schwein betreibt. Wenn nun die Neue Nationalgalerie in der 2.500 Quadratmeter großen oberen Halle das Studio dieses Künstlers ausstellt, rechnet man mit Räumen, die diese Gigantomanie spiegeln. Und dann steht da eine 16 Meter lange gut verschraubte Box aus Holz.

In diese Box wurde 1999 eines der Los Angeleser Ateliers von Paul McCarthy eins zu eins verpflanzt, nur dass es da nicht steht, sondern liegt, als wäre es mit einem großen Knall auf die rechte Außenwand gekippt. Hineinschauen kann man durch ein Fenster, – wie durch einen Bilderrahmen, sagt McCarthy selbst.

Auch Pinocchio ist da

Der erste Eindruck: Kunst und Krempel. Die beiden Fixpunkte sind ein Schnittplatz mit zwei Fernsehmonitoren und ein großer Reprotisch, beide ragen von der Seite in den Raum. Den Boden – also ursprünglich die linke Wand – bedecken Regale, in denen neben Bücher und Videokassetten auch ein Fahrradhelm liegt, überhaupt gibt es Ablageflächen zuhauf, auf denen so allerhand steht: eine Juki-Nähmaschine, ein französischer Bratentopf, eine der Pinocchio-Masken, die wohl entweder McCarthy selbst 1994 in der Video-Performance Pinocchio Pipenose Household Dilemma trug, oder ein beliebiger Galerie-Besucher (der um das Video zu sehen ebenfalls ins Kostüm schlüpfen musste).

Er selbst, sagt McCarthy, der zur Eröffnung in Berlin war, habe The Box nie in einem romantischen Sinne als Künstlerstudio gesehen. Wer in voyeuristischer Absicht einmal das Atelier eines Skandal-Künstlers sehen wollte, wird in der Tat enttäuscht. Für ihn, so McCarthy, stehe die Installation für andere Dinge, allen voran Desorientierung. Im Inneren der Box verliere er das Augenmaß dafür, welche Gegenstände von welchem Punkt aus noch zu erreichen sind. Diese Erfahrung bleibt dem Besucher vorenthalten, das Betreten ist nicht erlaubt. Um den Boden unter den Füßen zu verlieren, reicht jedoch ein längerer Blick durchs Fenster in dieses um 90 Grad gedrehte Sammelsurium von Relikten der Kunstproduktion des ausgehenden 20. Jahrhunderts.

The Box wurde 1999 für eine Ausstellung in Sankt Gallen gebaut, „drinnen L.A., außen Schweiz“, sagt McCarthy, ein Stück Amerika von Europa ummantelt. Nun wird sie in Berlin im Obergeschoss des einzigen Gebäudes, das Mies van der Rohe nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland realisierte, (und das er ursprünglich als Firmenzentrale für Bacardi auf Kuba entworfen hatte) gezeigt. Das macht die Installation auch als Ausgangspunkt für die Erkundung der Sammlung der Nationalgalerie aus den Jahren 1945 bis 68 interessant, die unter dem Titel Der geteilte Himmel im Untergeschoss präsentiert wird.

Paul McCarthy. The Box Neue Nationalgalerie, Berlin, bis 4. November 2012

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin „Kultur“

Christine Käppeler leitet seit 2018 das Kulturressort des „Freitag“, davor schrieb sie als Redakteurin vor allem über Kunst und die damit verbundenen ästhetischen und politischen Debatten. Sie hat Germanistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften und Journalismus in Mainz und Hamburg studiert und nebenbei als Autorin für „Spex. Das Magazin für Popkultur“ gearbeitet.

Christine Käppeler

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden