Lernen lernen

documenta 14 Eineinhalb Jahre vor dem Start der Kunstschau in Athen und Kassel eröffnet Adam Szymczyk mit dem Magazin „South as a State of Mind“ die documenta-Saison
Ausgabe 50/2015

Kassel dürfte den Schock inzwischen verdaut haben, dass die documenta 14 übernächstes Jahr zuerst in Athen eröffnen wird. Nun führt Adam Szymczyk, der die Doppelschau kuratiert, erneut ein Novum ein: ein vierteljährliches Magazin, mit dem die documenta schon jetzt beginnt. Im Vorwort jedenfalls betont Szymczyk, dass er das Magazin nicht als Vorgucker verstanden wissen will, sondern als eigenständigen Beitrag zur documenta. Aus den Zeilen des Kurators spricht eine nachvollziehbare Unruhe. Seit er im Herbst 2014 die Partnerschaft mit Athen bekannt gab, haben sich die Ereignisse dort überschlagen. Die linke Syriza-Regierung wurde gewählt, aufgelöst und wiedergewählt, dem Bankensystem drohte der Kollaps, und die Zahl der Geflüchteten, die Griechenland passieren, stieg auf Abertausende am Tag. Szymczyk hat für die documenta 14 früh ein Motto ausgegeben: „Von Athen lernen“. Verständlich, dass es sich in dieser Situation absurd anfühlen müsste, für 2017 zu planen und stillzuhalten.

Das Magazin ist ein echter Ziegel, 262 Seiten, schweres Papier. Es trägt den schönen Titel South as a State of Mind, der nicht erst für die documenta erfunden wurde. Seit 2012 erscheint in Griechenland ein gleichnamiges Kunstmagazin, eine Publikation der Kunsthalle Athena. Die Kunsthalle Athena heißt wirklich Kunsthalle und wurde 2010, mitten in der Krise also, in einem der prekärsten Innenstadtviertel von Marina Fokidis gegründet, die nun auch zu Szymczyks Team gehört. Diese Zeitschrift als dritter Spielort der documenta passt also ins Konzept. Wie schon in Athen ist Szymczyk nun auch hier zu Gast – dieser Gestus scheint ihm wichtig zu sein.

Auf Seite zwei steht ein starkes Bild, ein Schwarzweißfoto, das der Filmregisseur Adolfas Mekas 1948 von seinem später bekannteren Bruder gemacht hat: Jonas Mekas, Overlooking Kassel/ Mattenberg D.P. Camp. Aus Jonas’ Perspektive schaut man auf die Baracken, in denen KZ-Überlebende und ehemalige Zwangsarbeiter wie die Mekas untergebracht waren. Weiter hinten im Magazin finden sich Auszüge aus Jonas Mekas’ Tagebüchern von 1945 bis 48 (I Had Nowhere to Go). Es folgt Hannah Arendts Essay Wir Flüchtlinge, daneben ein Foto von 1923, auf dem muslimische griechische Flüchtlinge in Aleppo zu sehen sind.

Kassel und Aleppo, die Fotografien sind keine Illustrationen, sie öffnen den Raum über die Vergangenheit und Vorvergangenheit hin zur Gegenwart. Das ist auch dort so, wo diese Zeitschrift von Kunst erzählt und sie zeigt, Marta Minujíns Nachbau des Akropolis-Tempels von 1983 etwa, den sie in Buenos Aires aus Büchern, die unter der Militärjunta verboten waren, errichtete. Daneben Fotos des ausgebombten Fridericianums 1941. Der Hauptausstellungsort der documenta war damals noch eine Bibliothek, einen beachtlichen Teil der Bücher hatten die Nazis aber schon 1933 auf dem Vorplatz verbrannt.

Wäre dieses Magazin eine Kunstschau, so würde sich eine Dauerkarte empfehlen, denn wir haben bisher lediglich die Empfangshalle gestreift. Geografisch taucht die Zeitschrift südwärts bis zur Île de la Réunion und tief in die Geschichte der „Wiege der Demokratie und des Kolonialismus“ ein. Aufschlussreich ist auch ein Gespräch über die Sammlung Gurlitt, die Adam Szymczyk 2017 in Kassel zeigen wollen würde. Das wird kaum stattfinden. Aber hier – das dürfte die entscheidende Rolle der documenta als Magazin sein – kommt die Idee wenigstens zu ihrem Recht.

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Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin „Kultur“

Christine Käppeler leitet seit 2018 das Kulturressort des „Freitag“, davor schrieb sie als Redakteurin vor allem über Kunst und die damit verbundenen ästhetischen und politischen Debatten. Sie hat Germanistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften und Journalismus in Mainz und Hamburg studiert und nebenbei als Autorin für „Spex. Das Magazin für Popkultur“ gearbeitet.

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