Dirk Kurbjuweits Roman beginnt mit einer Geburtstagsfeier hinter Gittern, die an einen Spot erinnert, der lange Zeit im Kino lief: In dem Film schmettern eine Frau und drei kleine Kinder vor einer Gefängnismauer ein tapferes „Happy Birthday“, sie winken, dann entgleiten der Mutter die Gesichtszüge: Noch viermal singen, bis Papi nach Hause kommt. Doch während Papi einsitzt, weil er Kinofilme im Internet verbreitet hat, geht es bei Kurbjuweit um ein Delikt anderen Kalibers, nämlich um Totschlag. Der Vater des Architekten Randolph Tiefenthaler soll dessen Nachbarn Dieter Tiberius mit einer Walther PPK, Kaliber 7,65 mm Browning erschossen haben. Wie es dazu kam, wird sich der Architekt im Folgenden nachts von der Seele schreiben. Randolph Tiefenthaler ist entschlossen, zum Historiker in eigener Sache zu werden, denn der 45-Jährige ist überzeugt: Dass Herr Tiberius sterben musste, liegt auch „an der Geschichte meines Lebens“.
Unheimliches Souterrain
Genau genommen sind es drei Geschichten, die Kurbjuweit in Angst erzählt. Da wäre der Quasi-Thriller rund um den unheimlichen Souterrain-Bewohner Dieter Tiberius, der sich eines ausgesprochen perfiden Mittels bedient, um die neuen Nachbarn in Angst – und vor allem in Wut, wie sich fataler Weise erst sehr spät in diesem Roman herausstellen wird – zu versetzen. Tiberius zeigt Randolph und dessen Frau Rebecca wegen Missbrauchs ihrer eigenen Kinder an, und was sie mit Paul und Fee angestellt haben sollen, beschreibt er in einer solchen Detailtreue, dass die beiden fortan pädophile Übergriffe des Nachbarn auf die Kinder fürchten.
Angst erzählt aber auch die Geschichte einer „Kindheit mit Waffen“, wie Tiefenthaler selbst es nennt. Sein Vater hortet, seit er denken kann, Pistolen, ohne Holster unterm Arm verlässt er nicht das Haus. Als Kind muss Randolph ihn jeden Samstag zum Schießstand begleiten. Schließlich rebelliert er, wird erklärter Pazifist. „Für mich war Zuhause ein Ort, an dem man erschossen werden kann“, resümiert er in seinem Bericht. Die Faszination dieser Geschichte ist dem Erzähler bewusst: „Mein Vater ist immer eine gute Geschichte, (…) Waffen gehören heutzutage nicht mehr zu einem normalen Leben, und was ist interessanter, als von Abweichungen zu erfahren“.
Und dann ist da noch die Geschichte einer Ehe, deren Drama es ist, dass ihrem Niedergang jegliche Dramatik fehlt. „Am besten kann man es wohl so ausdrücken“, schreibt Tiefenthaler: „Ich habe mich aus meiner Ehe hinausgeschlichen, in einem langen Prozess.“ Und: „Die unglückliche Ehe, als Lebensform, die einen zufrieden macht, vielleicht gibt es das“. Wie der Tiefpunkt einer solchen Ehe aussieht? Anstatt mit einer Geliebten erwischt Rebecca Tiefenthaler ihren Mann alleine im Edelrestaurant, glückselig an einem Kalbsbratwürstchen kauend. Das hat schon etwas vom Solipsismus der Doris-Lessing-Erzählung To Room Nineteen, in welcher eine Frau sich regelmäßig ein Zimmer in der Stadt mietet, um einfach ein paar Stunden alleine zu sein. Die moderne, semi-gleichberechtigte Ehe analysiert Kurbjuweit hier ebenso schonungslos und präzise wie Lessing in den Siebzigern die archaische Form der Ehe, in der die Frau intellektuell wie finanziell in Abhängigkeit vom Gatten lebte.
Dirk Kurbjuweit war Leiter des Hauptstadtbüros des Spiegel, seit März vergangenen Jahres ist er der politische Großautor des Magazins. Angst ist Kurbjuweits siebter Roman. Der Journalist Kurbjuweit hat den Begriff „Wutbürger“ erfunden und zählt zu den profiliertesten Kritikern der Politk der Bundeskanzlerin. 1998 wurde er, damals noch als Redakteur der Zeit, mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Die Folter war sauber und ordentlich, so der Titel seiner Reportage, handelt von mutmaßlichen Folterungen in der deutschen Colonia Dignidad in Chile und der mühsamen Aufarbeitung dieser Fälle vor einem Bonner Gericht. Kurbjuweit hat Akten eingesehen und mit Opfern gesprochen. Er rekonstruiert den unendlich langen Weg im Kofferraum eines blauen Ford Transit zur Kolonie und die Stunden nach dem Verhör, in denen der Gefolterte nackt an eine Pritsche gekettet daliegt, während die Mitstreiterin, die ihn verraten hat, neben ihm seine Worte von einem Band abtippen muss. Wofür es keine Zeugen oder woran es keine eindeutigen Erinnerungen gibt – die eigentliche Folterung etwa –, das spart Kurbjuweit aus. Akribisch erwähnt er jeden Widerspruch in den Aussagen der Zeugen, etwa wie oft der Ford nun tatsächlich rechts abgebogen ist oder die genaue Jahreszahl auf einem Kaffeelöffel in der Kolonie. Die Glaubwürdigkeit, die dadurch entsteht, nimmt dem Bericht nichts von seinem Schrecken.
Ähnlich verfährt Kurbjuweits Ich-Erzähler Randolph Tiefenthaler bei der Aufzeichnung des Falls Tiberius, und besonders schonungslos geht der 45-jährige Architekt dabei mit der eigenen Person ins Gericht. „Herr Tiberius sah mir ungewohnt aus“, schreibt er. „Sicherlich kein Grund, mit jemandem nicht in einem Haus wohnen zu wollen oder ihn zu fürchten, aber es war nun einmal so bei mir.“ Und über sich und seine Frau: „In den sieben Monaten, die nun folgten, haben wir vieles gedacht, gesagt und getan, was mit unserer Vorstellung von uns selbst kollidierte, mit dem, was ich unsere aufgeklärte Bürgerlichkeit nenne. In diesem Moment fing es an, mit der Sprache, mit Dünkel“.
Vexierspiel
Natürlich weiß dieser Erzähler, was es bedeutet, dass seine Familie Räder von Bianchi fährt und Herr Tiberius ein altes Damenrad. Oder dass ihr Konflikt mit Herrn Tiberius für einen Außenstehenden auch wie der „Kampf eines Unterprivilegierten gegen einen Privilegierten“ aussehen kann, „Souterrain gegen Hochparterre“. Nur fühlt man sich als Leser ob dieser ewigen Selbstreflexion irgendwann von diesem Roman so wenig gebraucht, wie Rebecca von ihrem Mann. Mit Tiefenthaler, denkt der Leser, geht einfach zu oft der Journalist im Architekten durch. Was diesen Mann zum Architekten macht, ist, je länger man darüber nachdenkt, eigentlich nur der Name: Randolph Tiefenthaler, das passt irgendwie.
So bleibt der Journalist, auch wenn er sich aufs Fiktionale verlegt, vielleicht immer ein wenig zu sehr Journalist, wie etwa auch in Alexander Osangs belletristischem Werk. Man darf davon ausgehen, dass den Autoren das Problem bekannt ist. In Kurbjuweits vorletztem Roman Nicht die ganze Wahrheit ergibt sich ein interessantes Vexierspiel, wenn der Protagonist und Erzähler – ein Detektiv, der einem Ehebruch im politischen Spitzenmilieu auf der Spur ist – des öfteren mit einem gefälschten Presseausweis als Journalist auftritt. Und dann Dinge tut, die auch ein Journalist tun könnte – Politikerverhalten studieren, Presseausflüge auf dem Angelkutter über sich ergehen lassen –, und Dinge, die der Journalist auf keinen Fall darf – in Wohnungen einbrechen, E-Mails hacken.
Tiefenthaler aber wird die eigentliche Pointe seines Berichts kaputt reflektieren. Dass dies der Wucht der Handlung keinen Abbruch tun kann, zeugt von der außerordentlichen Qualität der drei Geschichten, die Kurbjuweit in Angst erzählt.
Angst Dirk Kurbjuweit Rowohlt 2013, 256 S., 18,95 €
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