Mutmaßungen über Selma

Bühne In Bastian Krafts genialer Inszenierung von „Dancer in the Dark“ kämpft das Publikum mit einer Sehstörung
Ausgabe 14/2018

Auf dem Boden liegt eine Brille, tastend nähert sich ihr eine Hand, langsam schiebt sich das Gesicht einer Frau hinterher. Sie setzt sich das Horngestell auf und schaut einen forschend, trotzig an, als wollte sie sagen: „Ich bin jetzt wieder im Bild.“ Die Brille, sie wird wohl schwarz sein, die Haare der Frau blond, aber für den Moment sind das nur Mutmaßungen über Selma, denn was wir von ihr zu sehen bekommen, bleibt auf den engen Rahmen von fünf Röhrenbildschirmen beschränkt, die synchron und in Schwarz-Weiß nur Ausschnitte dessen wiedergeben, was in der Tiefe des nachtdunklen Bühnenraums dahinter vor sich geht.

Nun ist die Anwesenheit von Bildschirmen auf Theaterbühnen nicht immer zwingend. Manchmal blasen sie halt ein paar überlebensgroße Bewegtbilder in den Raum, weil das so effektvoll ist wie eine Nebelmaschine, die eine Disco mit Dampf flutet. Wie konsequent ihr Einsatz in Bastian Krafts Inszenierung des Lars-von-Trier-Stoffs Dancer in the Dark ist, wird jedoch unmittelbar klar, wenn die Bildschirme im Folgenden die Handlung nur ausschnitthaft wiedergeben.

Selmas Schicksal ist, dass sie bald schon vollständig erblindet sein wird, schwerer noch lastet auf ihr das Wissen, dass ihrem Sohn genetisch bedingt dasselbe bevorsteht, sollte sie nicht bald schon das nötige Geld für seine Augenoperation aufbringen. Das Geld, über 12.000 Dollar, die Selma durch Heimarbeit und Sonderschichten in der Fabrik anspart, wird ihr zum Verhängnis, es weckt die Begehrlichkeiten des Vermieters Bill – buchstäblich ein armes Schwein –, der ihre Blindheit ausnutzt. Wo die Geschichte endet, wird den meisten durch den Film bekannt sein, den Ahnungslosen sei nur gesagt, dass alles schlimmer kommt, als sie es sich jetzt vermutlich ausmalen.

Der Kniff jedenfalls, den Bastian Kraft und Bühnenbilder Peter Baur anwenden, besteht darin, auch dem Publikum eine Sehbehinderung aufzuzwingen. Es muss sich an dem wenigen orientieren, was es in Schwarz-Weiß auf den Bildschirmen gezeigt bekommt. Hin und wieder erleuchtet ein Scheinwerfer einen Teil des Bühnenraums – gerade lange genug, dass der Blick Details wie ein Auto oder eine Person erfassen kann, aber zu kurz, um das Gesamtbild zu erkennen.

Spröder als von Trier

Ob die dort hinten wirklich spielen, was wir vorn zu sehen bekommen – nicht einmal das lässt sich mit Sicherheit sagen. Das alles ist mühsam und frustrierend, aber in seiner formalen Strenge genial, es erfordert höchste Konzentration, und dass diese sich von selbst einstellt, liegt auch an Lisa Hagmeister, die mit ihrer wie heiser klingenden Stimme der selbstlosen Selma die nötige Sperrigkeit und Bestimmtheit gibt, um den Drift in den Kitsch zu verhindern.

Ganz sichtbar werden die Figuren im ersten Teil nur, wenn Selma sich in eine der Musicalszenen wegträumt, die hier spröder inszeniert werden als bei Lars von Trier. Erst im letzten Drittel ändert sich die Perspektive, die Justiz übernimmt, der Bildschirm wird zur Zelle. Wie belastbar Bastian Krafts Setzungen sind, zeigt sich am Ende, wenn unüberhörbar ist, dass die konzeptionelle Strenge die emotionale Wucht der Geschichte nicht verdrängt: Noch bevor das Licht gänzlich erlischt, erweitert das Publikum die Tonebene um rhythmisch eigenwillige Schluchzer.

Info

Dancer in the Dark Regie: Bastian Kraft Thalia in der Gaußstraße, Hamburg

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Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin „Kultur“

Christine Käppeler leitet seit 2018 das Kulturressort des „Freitag“, davor schrieb sie als Redakteurin vor allem über Kunst und die damit verbundenen ästhetischen und politischen Debatten. Sie hat Germanistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften und Journalismus in Mainz und Hamburg studiert und nebenbei als Autorin für „Spex. Das Magazin für Popkultur“ gearbeitet.

Christine Käppeler

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