Im Herbst postete Jeremy Shaw auf Instagram den Scan eines Visums. Gültig für Deutschland, vom 19-11-07 bis 18-11-08, beglaubigt durch das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Vancouver. Dazu die Anmerkungen: Regierungsabsprache Jugendmobilität. Jede Beschäftigung gestattet. Es ist das Visum, mit dem der Künstler vor zehn Jahren nach Berlin kam. Wobei „Jugend“ für die Architekten des Abkommens eine ähnlich dehnbare Lebensphase zu sein schien wie für das kürzlich eingestellte Magazin Neon (Slogan: „Eigentlich sollten wir erwachsen werden“). Shaw ist 30, als er nach Berlin zieht. Wie so viele Künstler bleibt er, inzwischen vertritt ihn mit der König Galerie eine der aufsehenerregendsten der Stadt. Seit 2016 hat er ein unbefristetes Visum. Based in Berlin hieß 2011 eine Art Leistungsschau der jungen Berliner Kunstszene, an der auch Jeremy Shaw teilnahm. Der Titel bringt die Lebensumstände von Künstlern wie Shaw ganz gut auf einen Begriff: Er wohnt und arbeitet hier, ist aber auch ständig auf dem Sprung. Als wir skypen, erreiche ich ihn bei seiner Familie in Vancouver. Er kommt gerade aus Los Angeles, wo er Stipendiat des Hammer Museum war.
Ähnlich mobil sind seine Werke. Shaws Film Liminals war 2017 auf der Biennale in Venedig zu sehen, diesen Sommer zeigte ihn das Dark-Mofo-Festival in Tasmanien in einer blutrot angestrahlten Kapelle. Auch davon hat Shaw ein Foto auf Instagram gepostet. Nächste Station der Quantification Trilogy, zu der Liminals gehört, ist im September die Tate Modern in London.
Noch aber sind alle drei Filme in Hamburg zu sehen. Der Kunstverein stellt sie zusammen mit Bildern aus Shaws Serie Towards Universal Pattern Recognition aus. Das Prinzip dieser Bilder ist schnell erklärt: Sie basieren auf Archivmaterial, Fotografien von Menschen in entrückten Zuständen, manche sind in sich gekehrt, beten, andere schreien in Ekstase, schütteln die Arme. Über die Fotos hat Jeremy Shaw auf Rahmengröße zugeschnittene Prismen gelegt, die einen Ausschnitt kaleidoskopisch vervielfältigen. Der weit aufgerissene Mund einer Frau wird zu einem Tunnel, die ihr aufgelegten Hände zu einem Wirrwarr aus Fingern. Meistens zielt Shaw auf den Kopf, der sich geschwulstartig aufbläht oder zersplittert, so wird einerseits bildhaft, wie dadrin etwas ins Rutschen kommt, gleichzeitig entsteht der Eindruck eines übernatürlichen Kraftfelds, das die Personen umschließt.
Die Fotografien stammen von Gottesdiensten, spiritistischen Sitzungen, Festivals. Ihn interessiere, sagt Jeremy Shaw, wie Religion, Drogen, Meditation und Tanz ähnliche Bewusstseinszustände herbeiführten, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln. Die Wirkung der Droge Dimethyltriptamin verbildlichte er 2004 in der Videoinstallation DTM, für die er Konsumenten in einem klinischen Setting filmte. Die Prismen, sagt er, helfen ihm dabei, eine Vergleichbarkeit herzustellen. Priester oder Raver, für ihn mache das keinen Unterschied: „I am viewing them all under the same lense.“
Die Resultate sind berückend. Gleiches gilt für die drei Filme, die um die ferne, mittelfristige und nahe Zukunft kreisen. Quickeners (2914) ist eine Pseudodoku aus dem 26. Jahrhundert. Die Bewohner der Erde bestehen aus reiner Maschinen-DNA, jegliche Anlage für Spiritualität fehlt. Der Film geht dem Ausbruch einer Krankheit in einem abgelegenen Sektor nach. Das sogenannte Human Atavism Syndrom führt dazu, dass die Infizierten rituelle Verhaltensweisen nachstellen, „auch bekannt als tanzen, singen, kreischen, in Zungen sprechen, mit Schlagen hantieren“, wie der Sprecher im sachlichen Ton einer BBC-Doku ausführt.
Schlafende Glaubens-Zellen
Wie diese ferne Zukunft aussieht? Hier lässt Jeremy Shaw eine Leerstelle. Was er zeigt, ist ein auf 16mm gedrehter Schwarz-Weiß-Film aus den späten 1960ern, neu vertont, teilweise mit Effekten versehen, der Anhänger der Pfingstbewegung in einem Bergdorf aufsucht. In der Kirche steigern sich Männer und Frauen in Ekstase, giftige Schlangen werden herumgereicht. Wir sehen also lediglich den Ausnahmezustand – und der sieht im 26. Jahrhundert wie unsere Vergangenheit aus. In Zeiten der „Retromania“ (Simon Reynolds) erscheint das durchaus plausibel.
Nostalgie spielt für Shaw weniger eine Rolle: „Ich verwende gerne 16-Millimeter oder VHS, weil die Leute damit verbinden, dass das Gezeigte wirklich passiert ist. Es bekommt so eine gewisse Historizität.“
Die Sehnsucht der Maschinen – „Quantum-Menschen“ heißen sie hier auch – nach Transzendenz zieht sich durch alle drei Teile. Liminals (2017) richtet den Blick auf die Generation unserer Ur-Ur-Ur-Enkel, diesen Film im Look der frühen 1980er hat Jeremy Shaw selbst gedreht. Wieder ist der Ton der einer ethnologisch angehauchten Doku, beobachtet wird eine künftige Subkultur, deren Anhänger in einer alten Turnhalle mit gymnastischen Übungen und Tanz versuchen, ihr „neurologisches Muskelgedächtnis“ und schlafende Glaubens-Zellen zu reaktivieren. Dafür greifen sie auch auf Discokugeln und Stroboskope zurück. Was in der Beschreibung einigermaßen quatschig klingt, wird durch die professionelle Sprecherstimme ausgenüchtert, die quasi-wissenschaftlichen Ausführungen erhalten so Plausibilität. So wie die Wesen auf der Leinwand versuchen, bestimmte Emotionen durch Lichtblitze und Discomoves zu triggern, triggert diese Stimme ein Grundvertrauen in den Text. (Welche Wirkung sie auf Kritiker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat, harrt der Überprüfung.)
Diese Methode weitet Shaw im dritten Film I Can See Forever (2018) weiter aus, der nur 40 Jahre in die Zukunft schaut und einen jungen Mann begleitet, der einer der wenigen Überlebenden eines frühen Experiments mit Maschinen-DNA ist. Hier tritt ein Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts als Forschungsleiter auf: „Er spricht die Sprache eines Neurowissenschaftlers, aber er mischt Versatzstücke meiner fantastischen Story unter.“ Auch am Max-Planck-Institut war Jeremy Shaw Stipendiat, einen Monat lang arbeitete er in der Forschungsgruppe „Neuroanatomie & Konnektivität“. „Ich dachte, Wissenschaftler interessiert nicht, was ein Künstler zu sagen hat, weil es nicht rational ist. Aber insbesondere die Neurowissenschaftler haben mich sehr unterstützt, wohl auch, weil ihr Feld noch jung und sehr spekulativ ist.“ So anregend die Nähe zu den Wissenschaftlern war, ist für Shaw klar, wo ihre Wege sich trennen: „Ich will kein Experte werden. Wenn ich an einem Punkt bin, wo ich zu viel weiß, höre ich auf. Wenn ich etwas zu genau kenne, verliert es für mich die Faszination.“
Vielleicht versteht man den Reiz dieser Filme am besten, wenn man selbst etwas Parawissenschaft betreibt. Wenn man die Versatzstücke der Vergangenheit gegen die Behauptungen einer Zukunft aufrechnet und das Ergebnis grob überschlägt, landet man irgendwo zwischen übermorgen und vorgestern, in einer Gegenwart, die sich technologisch kurz vor dem nächsten evolutionären Schritt wähnt. Die Quantifizierung aller Verhältnisse ist dabei schon recht weit fortgeschritten. Und vielleicht, denkt man dann, fehlt in Jeremy Shaws Anordnung ein Puzzleteil, die Kunst selbst.
Yoga in der Galerie
Nie war das Angebot so groß, in Werken aufzugehen, sich ihnen auszuliefern, „immersiv“ lautet das nicht mehr ganz so neue Fachwort. Und wenn schon nicht im Werk selbst, dann eben im Kunsterlebnis. Dazu passt, dass St. Agnes, das Haupthaus von Jeremy Shaws Galerie, früher eine Kirche war. Immer mittwochs kann man hier außerdem Yoga machen, die Fotos, die davon auf Facebook gepostet werden, ähneln den Bildern der nach Transzendenz strebenden Maschinenmenschen in Jeremy Shaws 22. Jahrhundert frappierend.
Dieses Streben nach ganzheitlichen Erfahrungen ist umso bemerkenswerter, als die Kunstwelt lange Zeit regelrecht theorievernarrt war. Jeremy Shaw sieht das ähnlich: „Als ich in Vancouver anfing, Kunst zu studieren, stand alles unter dem Einfluss des Fotokonzeptualismus. Es gab ein sehr strenges Regelwerk für die Kunstproduktion, die Arbeit war sehr konzeptionell. Für mich war es gut, auf diese Art zu lernen, wie man Kunst schafft, aber genauso wichtig war es dann, mich davon wieder zu lösen.“ Auch er beobachte in der Kunstwelt allgemein diesen Trend: „In den 90ern und nuller Jahren ging es sehr stark darum, akademisch über Kunst zu schreiben und sie erklären und einordnen zu können. Ich glaube, wir kommen davon wieder etwas ab. Ich persönlich jedenfalls suche nach Dingen, die ich nicht erklären kann. Ich will, dass nach der Begegnung mit einem Kunstwerk für mich Fragen offen bleiben.“
Info
Jeremy Shaw. Quantification Trilogy Kunstverein in Hamburg, bis 22. Juli
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