Ende November stehen am Hegelplatz alle Zeichen auf Weihnachten und die Art Direktion stockt ihre Schnapspralinenvorräte auf (s. der Freitag 42/2018). Bevor Sie überlegen, spontan mit einer Schachtel Mon Chéri vorbeizuschauen: Besonders besinnlich geht es bei uns dieser Tage nicht zu. Wie jedes Jahr planen wir jetzt die Zeitung, die kurz vor den Feiertagen erscheinen wird. Eine ganze Ausgabe zu einem übergeordneten Thema. Welches, darüber debattieren wir stundenlang. In den vergangenen Jahren haben Nostalgie; Mut; Fakten, Fakten, Fakten und Identität das Rennen gemacht. Einmal ging es auch schlicht um Farben. Was das Votum dieses Jahr ergab, kann ich Ihnen nicht verraten. Aber welches Thema mal wieder verworfen wurde: Radio. Nicht der gute alte Kasten, den hätten wir auch 2012 in der Nostalgie-Ausgabe abhaken können. Sondern alles, was das Medium hergibt, von Propaganda-Schleudern wie Infowars bis zu den Informationen am Morgen im Deutschlandfunk.
Was mich als Printjournalistin irritiert, ist, wie oft ich selbst inzwischen Audio vorziehe. Ich würde ja gerne von mir behaupten können, ich läse täglich die New York Times. Meist sind es drei, vier Artikel die Woche online. Dafür höre ich so ziemlich jede Folge von The Daily, dem Podcast des NYT-Redakteurs Michael Barbaro. Gut 20 Minuten dauern die einzelnen Folgen, für die Barbaro sich Experten aus dem eigenen Haus einlädt, mit denen er ein aktuelles politisches Thema vertieft. Barbaro hakt ständig nach: Was genau ist passiert? Was geschah dann? Warum sollte er das tun? Was könnte ihre Motivation sein? Wer verstehen will, was hinter den jüngsten Facebook-Enthüllungen steckt, weiß nach der Folge von vergangenem Freitag wirklich alles.
Am liebsten höre ich im Moment The Lot Radio. Das Studio des Onlinesenders befindet sich in einem ausrangierten Schiffscontainer, der auf einer Brache in Brooklyn steht. Musiker und DJs legen dort auf, und das Schöne ist, dass man ihnen live dabei zusehen kann. Während ich diese Zeilen schreibe, legt der Sänger des Noise-Rock-Trios A Place to Bury Strangers den Song I Can’t Live Without My Radio von LL Cool J auf.
Um ehrlich zu sein: Als ich früher selbst zwei Stunden im Monat bei einem unabhängigen Radiosender auflegte, neue Platten vorstellte und Interviews mit Bands abspielte, da fand ich es extrem gut, dass dieses Studio schallgeschützt und fensterlos war. Es spricht sich entspannter zur Welt da draußen, wenn man von ihr abgekoppelt ist.
In den Konferenzraum des Freitag haben nur die Nachbarn aus der Wohnung gegenüber Einblick. Aber das ist ein anderes Thema: Privatsphäre. Für die Jahresendausgabe 2019 schreibe ich mir das schon mal auf meine Longlist.
Kommentare 11
Hallo Frau Käppeler,
das kann ich gut verstehen, mir geht es ebenso. Es gibt sehr viele hochwertige Radiosendungen, die man obendrein auch noch in vielen Lebenslagen genießen kann, was, wenn man hingucken muss, schon schwieriger wird.
Dazu kommt, dass man hier auch weniger selbst auswählt und dann und wann – wie früher beim Fernsehen – auch mal was mitbekommt, was man nicht bewusst gewählt hätte, was sie dann aber als bereichernd heraus stellt. Mein Fernsehkonsum hat im Internetzeitalter dramatisch abgenommen, ich schätze mal höchstens noch 10% von früher, mein Radiokonsum ist tendenziell gleich geblieben, bis gestiegen. Die Papierzeitung ist bei mir out – leider, irgendwie – das feste Buch nicht.
Waaas, das Thema Radio wurde verworfen?!! Ich kündige mein Abo... 😁
schon zwei mal!
Ach ne - Sie auch?!
Für dieses Jahr ist es leider zu spät. Aber vielleicht könnte kommendes eine Petition seitens der Community helfen.
Nachdenkliches zum Wochenende, aus einer schnelllebigen Branche. Danke dafür, Frau Käppeler.
Auch sprachlich bilden sich, um das gesprochene Wort, die größten Gegensätze seines Ansehens ab. Ist das nicht komisch?
"Es gilt das gesprochene Wort", taugt gravitätisch, für die Staatsrede, die Parlamente, jene Sprechenden- Versammlungen und weniger majestätisch, für die Beleidigungsklagen, mit Zeugen oder mit Amtsbonus. "Wer schreibt, der bleibt", ist hingegen immer noch Signum unserer Schriftkultur und vor Gericht oder auf dem diplomatischen Parkett, beim Handel und internationalen Wandel, wäre es grob fahrlässig, verzichteten Menschen gutwillig oder ahnungslos auf die Schriftform. Wer das macht, riskiert untergebuttert zu werden, denn für gewechselte Worte gibt es kaum ein verlässliches Pfand, es sei denn, wir hören alles ab und zeichnen es auf.
"Hört auf meine Worte!", das ist Kassandras Profession. Aufgeschrieben haben sie sagenhafte Dichter, die ihre Geschichte möglichst einheitlich tradiert wissen wollten. Andererseits: Soll ich Tweets und Twitter, ihrem Wesen nach sind sie gesprochen, versprochen, gebrochen und oftmals erbrochen, tatsächlich der "heiligen" Schrift zuordnen, die bei solchen Ohrenbeichten oft inhaltlich und ästhetisch verhunzt wird? Amen.
Auf das Deutschland- Radio oder den Deutschland- Funk ist zum Glück Verlass, selbst wenn es dort politisch häufiger konservativ zugeht. Und WDR- 5 ist immer noch ein Geheimtipp! Mir scheint zudem evident, dass die besten Radioredaktionen ihre Hörer unablässig zum Buch und zum Film drängen. Das kann nicht verkehrt sein.
Ich muss bei Radio und Liebe an Woody Allen denken, den wirklich und plötzlich nur noch wenige lieben und erwähnen, in liebevollen Zusammenhängen.
"Radio ga ga, Radio goo, goo..., Radio blah, blah", spricht sehr für die frühjugendliche Isolierung und Radioliebe der Queen, in "ihrer allerbesten Stunde".
Irgend ein Radioprogramm wird von dir geliebt und liebt dich. - "You Turn Me On, I'm A Radio"- Joni me!
Das Radio, das man liebt, verehrt, verachtet, kann weniger leicht abhanden kommen, in den Zeiten des Weltempfangs und des Weltnetzes, als jede prekäre Zeitung. Ich bin zum Beispiel uneingeschränkt für das "National Public Radio" der USA und alle seine Schwestern. Die haben meist Format.
Selbst in der "dunkelsten Stunde"- schon wieder Churchill- funktioniert noch unsere Radiotheorie:
"Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug,// Daß meine Lampen mir auch nicht zerbrächen,// Besorgt vom Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug, //Daß meine Feinde weiter zu mir sprächen, //An meinem Lager und zu meiner Pein,// Der letzten nachts, der ersten in der Früh,// Von ihren Siegen und von meiner Müh:// Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein!"
Ich finde, Zeitungen sollten sich mit den besten Radios gemein machen, sie einladen. Und Radios sollten nicht aufhören, die Zeitungen zu lesen, um es umgekehrt ebenso zu halten, mit und ohne Wellen. - Das ist übrigens ein Verlust. Wenn alles nur noch über IP- Adressen läuft, hört man den Wellensalat, das sprichwörtliche Rauschen der Welt, nicht mehr. So viele Stimmen, die sich überlagerten, drehte man einst am Endlosregler des Weltempfängers.
Ein Meilenstein wäre doch das Experiment, einmal einen " der Freitag" von A-Z, im Stile der A-Z- Seite, ganz dem Radio zu widmen und nach einem passenden Layout für den Weltenklang zu suchen (synästhetisch). Wie und ob sich das rechnet, weiß ich allerdings nicht.
Zumindest sollten Sie aber den Zugang zu Michael Barbaros, "The Daily", erleichtern. Seine Sendung läuft auf dem Radio KERA, 90.1,7p.m. und im Web, als Podcast. Der Vorteil: Wir können einige ältere Barbaro- Beiträge anhören. Bei KERA kommt selbstverständlich auch ein Teil des NPR- Programms ("All things considered") und z.B. "Think", ein wissensorientiertes Programm, das wirklich zum Denken anregt. Die gute alte BBC ist ebenfalls dabei.
Schönes Wochenende
Christoph Leusch
obwohl Sie stimmlich im radio ganz gut rüberkommen!
Wenn alles nur noch über IP- Adressen läuft, hört man den Wellensalat, das sprichwörtliche Rauschen der Welt, nicht mehr. So viele Stimmen, die sich überlagerten, drehte man einst am Endlosregler des Weltempfängers.
IP-Adressen und das Rauschen der Welt müssen einander nicht ausschließen:
Unterhalb des "Wasserfalls" eine Frequenz in das Feld mit der Voreinstellung 14589,80 kHz eingeben, und unter dem Eingabefeld die Taste "AM" wählen.
Erste Orientierung im Wellensalat bieten diese Seiten.
Dann scheint ja noch Hoffnung zu sein und ich kann mein Abo behalten. 😊
Um das Thema auf‘s Tapet zu heben, bin ich auch zum Petitionenschreiben bereit. Ob diese Community aber davon in Schwung zu bringen ist?
Vielleicht muss es ja gar keine Weihnachtsausgabe sein. Vielleicht könnte die Redaktion ja mal wieder ein übergreifendes Projekt ausrufen / organisieren und FC-Mitglieder bitten, Texte über das Radiohören, bestimmte Sender und Sendungen, über das „Sozialisiertwerden“ mit Radio u.dgl.m. zu schreiben. Vor Zeiten hat es sowas hier durchaus immer mal wieder gegeben.
Die FC war schon immer nur ein Schwarm, kein „Kollektiv“, nicht wirklich als ganzes ein Gruppensubjekt. Aber anders als heute hat es doch Verbindungen gegeben, die über die virtuelle Begegnung auf der Plattform hinausreichten.
Vor ein paar Tagen hab ich einen FC-Freund nach längerem mal wieder life-haftig getroffen. Wir verbrachten ein paar schöne Stunden mit einander und redeten viel. Er ist genauso lange dabei wie ich, noch aktiv, aber schätzt die Atmosphäre ebenfalls heute viel weniger motivierend ein. Ein Stammtisch zum Politisieren. Kaum noch ein Raum für Texte, die thematisch und formal einen Eigenwert haben, die aus Schreiblust entstehen und Leselust bedienen.
So etwas zu aktivieren, braucht es Anregung und Anstoß. Das kaum früher aus beiden Richtungen, aus Sub-Kollektiven in der FC und aus der Redaktion. Das ist aber auf beiden Seiten, tja, eingeschlafen?
Das ist witzig und interessant. Danke, JR´s China Blog, auch für den Link zu den Freunden der Wellen.
Ich finde das Wort "Wellensalat" so schön, für das es keine passende Übersetzung (englisch "jamming") gibt. Es gehört für mich in die Sammelkiste, zu "Kindergarten", "Wanderlust", "Gemütlichkeit".
Dabei dachte ich an das "Ponzo"- Prinzip bei der Suche nach den eigenen Lieblingssendern. Solchen, die einem nahe sind und solche aus der Ferne, angesichts der Tatsache, dass es allein schon allermindestens 700 empfohlene Kulturradios weltweit gibt:
http://www.radio.net/topic/Culture/
Nach dem Ponzo- Prinzip, hörte ich zum Beispiel niederländische Radios und Webradios und fand dort Janne Schras "Ponzo", einen Clip zum vorletzten Album der Musikerin, der den Wellensalat als Road trip abbildet, mit Hilfe von Freunden.
https://www.youtube.com/watch?v=u-vXVJ2kEOM
Schönes Wochenende
Christoph Leusch
Der 13. Februar ist der weltoffizielle "Welttag des Radios" (UNESCO). Das wäre doch ein geeignetes Datum, Goedzak.
Beste Grüße
Christoph Leusch