„Schock führt zu Innovation“

Interview Der Architekt Philipp Misselwitz über den Wandel von Flüchtlingslagern zu Camp Citys und das Bauen der Zukunft
Ausgabe 52/2015

der Freitag: Herr Misselwitz, Sie erforschen seit acht Jahren Flüchtlingslager im Nahen Osten. Was beobachten Sie dort?

Philipp Misselwitz: Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR kann in Notsituationen beeindruckend schnell Zelt- und Containerstädte errichten und betreiben. Weltweit stellen wir nun aber fest, dass diese Notlösungen in die Krise kommen, weil die Flüchtlinge bleiben. Die Lager bekommen so eine temporäre Permanenz.

Wir müssen über dieses Thema also ganz neu nachdenken?

Das Flüchtlingsregime der Moderne ist an sich noch nicht sehr alt, 1950 wurde das UNHCR gegründet. Aber erst seit einigen Jahren spricht man von einer protracted refugee situation – einer verzwickten Flüchtlingslage. Der Anteil der Flüchtlinge, die im Wartezustand verharren, steigt. Ihre Rückführung, Integration oder Umsiedlung in Drittländer funktioniert immer seltener.

Was folgt daraus?

Zaatari, das mit derzeit 80.000 Bewohnern größte Flüchtlingslager in Jordanien, hat sich in nur wenigen Jahren von einer Container- und Zeltstadt zu einer sogenannten Camp City entwickelt. Wir bezeichnen diesen Prozess als Urbanisierung oder Stadtwerden. Aus einer reinen Zweckunterkunft für bedürftige Opfer entsteht ein komplexes System aus Quartieren, öffentlichen Räumen und Zonen, in denen Handel betrieben wird. Straßen erhalten von den Bewohnern Namen, eine Hauptstraße in Zaatari heißt Champs-Elysées. Das Problem ist, dass die Hilfswerke Urbanisierungsprozesse als Albtraum betrachten. Sie gelten als Regelbruch, Verslumung, blühende Korruption, Hort von Konflikten.

Zur Person

Philipp Misselwitz, 41, ist Professor für Internationale Urbanistik und Entwerfen an der Habitat Unit der Technischen Universität in Berlin. Er hat in Cambridge und London Architektur studiert und 2009 zum Thema Camp Cities – Urbanisierung von Flüchtlingslagern promoviert

Sie sehen das anders?

Sobald man anfängt, um sein Zelt ein Territorium abzustecken und etwas anzubauen, werden diese fast militärisch vorstrukturierten Camps aufgebrochen. Es entstehen öffentliche Räume, Märkte, Orte, wo man Religion ausübt. Für mich ist das ein Ausdruck davon, dass Flüchtlinge ihre Handlungsmacht wiedererlangen. Sie werden von Opfern zu eigenverantwortlich handelnden Subjekten. Damit erlangen sie nicht nur ein Stück Menschenwürde wieder, es ist vielleicht auch die wichtigste Ressource, die zu einer nachhaltigen Verbesserung ihrer Lebensbedingungen beitragen kann.

Was heißt das für Deutschland?

Bisher hat man auch hier versucht, Flüchtlinge nur als Opfer zu sehen, die versorgt werden müssen und zwar möglichst minimal. Symptomatisch ist ja die Debatte um Sachleistungen versus Taschengeld. Ein Budget, über das Flüchtlinge selbst verfügen können, wird als Bedrohung angesehen.

Wie lässt sich dieser Konflikt auflösen?

Ein typisches Problem in der Entwicklungshilfe ist, dass Projekte von Gebern erdacht, geplant, hingestellt und fotografiert werden. Humanitäre Organisationen agieren ähnlich top-down. Leider denken viele Architekten und Planer ebenfalls so. Wir kennen das aus den schwierigen und konfliktreichen Debatten um Bürgerbeteiligung und Teilhabe, die wir auch vor der Flüchtlingskrise geführt haben. Auch die gegenwärtige Debatte um bessere Flüchtlingsunterkünfte vergisst oft: Es geht nicht nur darum, schnell und viel zu bauen. Sondern vor allem: Wie können wir Flüchtlinge zur Selbsthilfe befähigen?

In der Ausstellung „Wohnungsfrage“ im HKW in Berlin war kürzlich ein Film über die Mikrobrigaden in Kuba zu sehen. Laien wurden damals von ihren Betrieben freigestellt, um für sich und ihre Kollegen Wohnblöcke zu bauen. Zwischen 1971 und 75 sollen so jährlich 20.000 Wohnungen entstanden sein.

Solche Ansätze sieht man auch bei Berliner Baugruppen und Baugenossenschaften. Man bezeichnet das als inkrementelles Wohnen. Im Spreefeld haben sie sich zum Beispiel entschieden, die Erdgeschosszone im Rohbau zu belassen und immer wieder selbst ihrem Bedarf anzupassen. Im Moment sind dort Tischlerwerkstätten drin, in fünf Jahren ist dort vielleicht etwas anderes.

Dort geschieht das weniger aus einer Not heraus als aus dem Bedürfnis der Eigentümer, selbst Hand angelegt zu haben.

Für Flüchtlinge gilt dieses Argument umso mehr. Sie in die Planung einzubeziehen, sie an der Gestaltung oder dem Ausbau von Wohnungen und Unterkünften zu beteiligen, kann nicht nur Kosten senken, sondern vor allem eine heilende Wirkung haben. So lässt sich ein Stück verloren gegangene Würde zurück erlangen.

Der japanische Architekt Shigeru Ban baut aus Karton einfache und stilvolle Flüchtlingsbehausungen. Warum entwickelt hier niemand solche Visionen?

Der Fokus auf effiziente, billige und ästhetisch ansprechende Notunterkünfte kann problematisch sein. Die Gefahr besteht, dass hier eine neue Typologie segregierten Wohnens geschaffen wird. Außerdem könnte dieser Fokus eine riesige Ressourcenverschwendung bedeuten, denn in wenigen Jahren haben Notbehausungen ausgedient. Wir haben uns hier an der Universität bewusst dagegen entschieden, mit unseren Studenten Entwürfe für Notunterkünfte zu entwickeln.

Was ist in Ihren Augen zukunftsträchtiger?

Wir haben erst mal geschaut, welche Räume eine Stadt braucht, um zu einer Arrival City zu werden. Wir haben die Studenten losgeschickt, um die Flüchtlinge beim Kochen und Essen zu zeichnen. Sie haben eingeschweißte Pakete gezeichnet, die viel teurer sind als das viel diskutierte Taschengeld. Und wie inhuman es ist, jeden Tag das gleiche abgepackte Essen zu bekommen. Und wie die Leute es trotzdem schaffen, dieses Essen auseinanderzunehmen, kreativ neu zu interpretieren und daraus ein syrisches Festmahl zu machen. Das ist für mich eine Metapher, wie Flüchtlinge in schwierigen Situationen Dinge für sich umentwickeln und neu entdecken.

Metaphern sind gut, aber was lässt sich in der Praxis damit anfangen?

Wir haben über den Sommer mit Studierenden ein großes Küchenmöbel gebaut, das aus vielen kleinen Küchen besteht. Diese Idee erwuchs aus einer Kooperation mit der Organisation Über den Tellerrand e.V., die bereits ein Kochbuch mit Rezepten von Flüchtlingen herausgegeben hatte. Der kitchen hub ist mittlerweile in einem ehemaligen Laden in Berlin-Schöneberg installiert. Flüchtlinge können dort als Kochlehrer Anwohner unterrichten. Um das Essen herum entstehen Begegnungen auf Augenhöhe. Das gemeinsame Kochen ist für mich eine Metapher, die es nun in die Stadtplanung und Architektur zu übersetzen gilt. Wie können wir neuen Wohnraum – in der technokratischen Sprache als „Folgeunterkünfte“ bezeichnet – mit Flüchtlingen und Anwohnern koproduzieren, so dass nachhaltige und gemischte Quartiere entstehen und keine Ghettos?

Was erwartet uns 2016?

Im Moment haben die Flüchtlinge keine Stimme. Sie sind immer eine anonyme dritte Gruppe, die in Zahlen oder an Einzelschicksalen beschrieben wird. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir über Flüchtlinge nicht wie über Kinder entscheiden können. Bisher gibt es keine Form der kollektiven Organisation oder Willensbildung. Wenn es dazu kommt – und das wird es bald –, werden viele Angst bekommen. Ich hoffe, es wird uns gelingen, das Positive daran zu sehen. Wir haben den Gastarbeitern jahrzehntelang keine Stimme gegeben, sie nicht mitgestalten lassen. Wir müssen vermeiden, dass es wieder so lange dauert.

Der Architekt und Stadtplaner Manfred Osterwald hat vorgeschlagen, er könne für rund 500 Millionen Euro in Deutschland ein Klein-Aleppo für 300.000 Flüchtlinge bauen. Mit eigenen Schulen, eigenen Krankenhäusern und einer Moschee.

Was fehlt, sind bezahlbare Wohnungen in den Städten. Wenn wir die staatlichen Ressourcen isoliert auf neue Flüchtlingsgruppen lenken, sendet das ein vollkommen falsches Signal aus und führt zu Konflikten. Wir sollten die Chance nutzen, um eine neue Form von Sozialwohnungsbau zu entwickeln, ohne die Fehler des monotonen und inhumanen Massenwohnungsbaus der 1970er Jahre zu wiederholen. Innovationen eines Systems entstehen oft unter Schock. Eigene Städte zu schaffen halte ich für absurd und gefährlich. Damit fördert man eine Polarisierung der Gesellschaft.

Illustrationen zu dieser Ausgabe

Die Bilder der Ausgabe sind illustrierte Zukunftsvisionen von Klaus Bürgle aus dem letzten Jahrhundert: „90 Prozent waren Forscherwissen, das andere Fantasie und Konstruktion.“ Mehr über den extraterrestrischen Grafiker erfahren Sie im Beitrag von Christine Käppeler

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