Die Vorteile der Sackaussparung kannten Friederike Ernst (links) und Daniela Reis schon vorher
Foto: Sven Döring für der Freitag; im Hintergrund: Helmut Schwickerath „Die Heilige Unterhose von Karl Marx“, 2012
Siri, die Spracherkennungssoftware, mit der ich meinen Kalender verwalte, hat mir für den 16. März 2017 folgenden Termin eingetragen: 14 Uhr, Hygiene-Museum Dresden, Schmidt Proschanke. Der Ruhm von Schnipo Schranke hat sich offensichtlich noch nicht bis zu Siris Entwicklern nach Cupertino, Kalifornien durchgesprochen. Weder scheint man dort den Hit Pisse zu kennen noch das Gericht Schnitzel mit Pommes, Mayo und Ketchup, nach dem Friederike Ernst und Daniela Reis ihre Band benannt haben.
Ernst und Reis würden eher Fame sagen anstatt Ruhm, gut läuft es für sie auf jeden Fall. Die folgenden Konzerte in Berlin und Hamburg sind ausverkauft, in Clubs, die fast tausend Leute fassen. An diesem Abend treten sie das erste Mal in Dresden auf, in einem bröckeligen alten B
46;ckeligen alten Ballsaal, und auch hier werden später ein paar hundert Menschen mit ihnen singen: „Ich hab heut Nacht ins Bett gemacht, mein Psychiater hat sich letzte Woche umgebracht.“ Was übrigens nicht der Refrain von Pisse ist, sondern der Einstieg des zweitgrößten Schnipo-Schranke-Hits Cluburlaub. Den Refrain von Pisse kennt das Publikum in Dresden aber auch.Noch so ein Missverständnis: Schnipo Schranke ist keine Untenrum-Hihihi-Band. Friederike Ernst und Daniela Reis texten nur sehr explizit. Typische Schnipo-Schranke-Reime sind: „Du hast in meinem Po gepult und dir dabei den Tod geholt“, „Gute Reise, kleine Tamponade, im Abflussrohr fließt keine Limonade“ oder eben „Warum schmeckt’s, wenn ich dich küsse, untenrum nach Pisse“. Sie singen das mit Hingabe, beide spielen dazu Keyboards, zwischendurch Schlagzeug, Friederike Ernst auch mal Blockflöte, was sie auf der Musikhochschule in Frankfurt studiert hat, wo Reis und sie sich kennenlernten. Auf Boden folgt Hoden. Man kann das zwanghaft finden. Aber was sollte auch sonst auf Boden folgen? Loden…mantel? Das wäre dann wirklich Hihihi-Humor für Menschen, die Sch…eibenkleister für ein satifsaktionsfähiges Schimpfwort haltenDie loudeste CrowdUm das in Gänze zu verstehen, ist das Dresdner Hygiene-Museum der richtige Ort. 1912 wurde es als „Volksbildungsstätte für Gesundheitspflege“ gegründet, seither hat sich einiges geändert, doch noch immer wird hier über Körper und soziale Fragen aufgeklärt. Aktuell läuft die Sonderausstellung Scham. 100 Gründe rot zu werden. Sie ist als Parcours durch hundert Standardsituationen angelegt, in denen sich Menschen mehr oder weniger unwohl fühlen.Noch wirken Friederike Ernst und Daniela Reis, als fühlten sie sich ausgesprochen wohl. Am Vorabend sind sie in Leipzig aufgetreten vor der „loudesten Crowd der Tour und der Tour davor und der Tour davor und der davor und der davor und der von Robbie Williams“, wie sie auf Facebook geschrieben haben, im Schlepptau haben sie ihre „Macker“. Reis’ Ehemann Ente Schulz spielt bei ihren Konzerten auch Schlagzeug und Keyboards, Ernsts Freund ist als Tourmanager dabei.Die Macker streunen mit etwas Höflichkeitsabstand vornweg durch die Ausstellung, während wir direkt beim ersten Grund für Scham hängen bleiben: Angeblickt werden. Am Eingang wurden Fragebögen ausgehändigt, auf denen angekreuzt werden soll, wie peinlich man die Situationen findet. Am Schluss soll man so seine persönliche Schamkurve bestimmen können. Friederike Ernst setzt ihr Kreuz bei „ein bisschen“. „Ich kämpfe schon immer mit Schüchternheit. Wobei ich mir das inzwischen echt gut verzeihen kann. Ich finde das nicht mehr schlimm.“ Wie hält man es aus, als schüchterner Mensch vor 800 Fremden übers Bettnässen, Gangbang-Fantasien und Sackhaare zu singen? „Auf der Bühne suchen wir das Setting aus, das ist etwas anderes, als wenn ich bei Aldi stehe und Hallo sagen muss an der Kasse. Das kann einen ja manchmal schon überfordern.“ Warum das denn? „Weil man nicht darauf vorbereitet ist, dass man kommunizieren muss.“ „Sex“, schiebt Reis hinterher, „ist für uns kein Schamthema. Ich finde nicht, dass ich eine Angriffsfläche biete, wenn ich etwas über mein Sexualleben preisgebe. Das hat ja jeder. Da ist nichts bei für mich.“Woher das kommt, kann sie sich selbst nicht erklären. Sie sei schon im Kindergarten offensiv mit dem Thema umgegangen. „Ich weiß, dass ich mit den Erzieherinnen Ärger hatte, weil ich ständig die Jungs angefasst und über Penisse geredet habe. Meinen Eltern war das alles immer viel zu viel. Für mich ist das so normal, wie zu erzählen, was ich zu Mittag gegessen habe.“ Ernst war lange Zeit diskreter: „Ich wollte früher ungern komisch auffallen. Irgendwann habe ich auch mal Sachen rausgehauen. Jetzt ist es mir egal.“Als zweiter Grund für Scham steht auf dem Zettel: Erröten. Reis kreuzt „sehr“ an. „Echt selten. Aber wenn ich rot werde, ist es schlimm. Weil das Schwäche zeigt und ich auf der Schamebene etwas anderes ausstrahlen will. Ich finde, keiner muss sich für irgendetwas schämen. Wenn ich rot werde, ist mir das deshalb peinlich.“Eine halbe Stunde ist um, und wir haben noch 98 Punkte vor uns. Also springen wir zu Grund 15: Verliebt sein. Auf beiden Alben geht es um Situationen, in denen Frauen sich lächerlich machen, Abhängigkeit zulassen, sich nicht dagegen wehren, schlecht behandelt zu werden. Der Song Gast handelt davon, wie Ernst einen Typen tagelang durchs Fenster beobachtet, der sich null für sie interessiert (Punkt 18, Spannen, ist somit auch abgehakt. „Nicht peinlich“, sagt Ernst). Schrank fiktionalisiert die Affäre mit einem Mann, der Reis dominiert, sexuell demütigt, von anderen isoliert. In Pisse schließlich geht es nicht nur darum, wie ein Mann untenrum schmeckt, sondern auch um ein lyrisches Ich, das sich aus Unsicherheit offensiv danebenbenommen hat und damit im Zustand postalkoholischer Depression klarkommen muss. Womöglich ist dieses Tabu, an das die beiden rühren, sogar noch wirkmächtiger als die ungewaschenen Details unseres Sexuallebens: eine Frau, die es zulässt, sich zu blamieren.Grund 25, Stuhlgang, wird im Museum von einer multifunktionalen Toilette symbolisiert, die die Eigenheit verschiedener Kulturen beim Klogang berücksichtigt. Kann wohl auch abgehakt werden. „Na ja“, sagt Reis. Wir bremsen ab. „Als ich neu in meiner aktuellen Beziehung war, war ich fünf Tage nicht kacken, weil ich Angst hatte, dass der das hört oder riecht. Ich kreuze ‚sehr‘ an.“ Aber darüber zu singen, macht ihr nichts aus? „Doch. Sehr. Deshalb mache ich das immer wieder. Ich denke, dass es den Leuten etwas bringt, wenn man so etwas in ein Konzertprogramm einbaut. Was sich beim ersten Zeigen unangenehm anfühlt, ist besonders wertvoll, auch für andere. Daran glauben wir.“ Grund 28: Ausgestellt werden. „Wir hatten einen Auftritt bei einer Firmenfeier. Das ist mega undankbar. Und so viel Geld war es dann auch nicht.“ Grund 36: Verletzte Ehre. „Uns kränkt es, wenn Leute sagen, dass wir dilettantisch Musik machen. Wir haben uns so viel mit Musik beschäftigt, wir wissen ganz genau, was wir machen. Das ist eine Beleidigung. Peinlich ist es uns nicht.“Hosenlos zu TischFast eine Stunde sind wir mittlerweile im Museum, die Tage auf Tour machen sich nun doch bemerkbar, Schnipo Schranke bauen merklich ab. Hinsetzen also erst mal, auf der Leinwand vor uns grummelt ein dicker Mann in einem Feinrippunterhemd über einer Wurstsuppe. Es ist der Vater des Autors und Regisseurs Jörg Buttgereit, den dieser unbemerkt gefilmt hat. Kurator Daniel Tyradellis schreibt im Katalog zur Ausstellung über das heimische Wohnzimmer, es sei „das Schlachtfeld par excellence für die innerfamiliäre Scham mit all ihren Abgründen“. Ähnlich eng ist das Ausgangsszenario des Schnipo-Schranke-Songs Dope, der sehr kindisch beginnt und in den fast epischen Refrain „Mother was a lie, father was a joke, that’s why I love dope“ mündet. Für Eltern muss das eine sehr spezielle Erfahrung sein: Eben noch studieren die Töchter Cello und Flöte an der Musikhochschule, dann sperrt Youtube ihr erstes Bandvideo, weil darin ein Mann in ihre Teetassen pinkelt. Schämen ihre Eltern sich für sie? „Mein Vater ja, meine Mutter nein“, sagt Reis. „Verständlicherweise findet sie es nicht toll, wenn ich singe: ‚Mama, ich hasse dich so sehr‘.“ Die Eltern von Friederike Ernst sind zu einem Konzert gekommen, „ein bisschen hart“ fand sie das. „Gerade weil ich in der Familie nicht über solche Sachen rede.“ Als sie ihnen ganz zu Anfang ihr Demo schickte, rief ihre Mutter nach ein paar Tagen an: „Sie meinte, das ist nicht ihre Sprache, aber sie versteht das und findet es toll.“ Das Demo, sagt Ernst, sei noch ungleich schlimmer gewesen als das Album. „Die können das gut abstrahieren.“Die Hälfte ist geschafft. Wäre dies eine Bergtour, könnte uns jetzt ein Wirtshaus retten. Stattdessen steht eine Reliquie am Wegesrand, ein Altar, in dem eine lange Unterhose hängt, die Karl Marx zugeschrieben wird. „Unser Bühnenoutfit“, freut Reis sich. „Die beste Klamotte, die wir je hatten“, sagt Ernst. Seit einiger Zeit treten sie in weißer Armeeunterwäsche auf. „Ein angenehmer Nebeneffekt ist, dass man damit null sexy aussieht. Viele Männer finden es ganz schlimm, wenn man als Frau eine Sackaussparung im Schritt hat. Das finde ich gut, dadurch ist man schon mal keine Wichsvorlage.“ Im Sommer, erzählt Reis, trete sie auf Festivals gern barfuß auf. „Da gibt es dann Herren, die unter die Fotos schreiben: ‚Süße Füße‘. Da wird mir richtig schlecht.“ Wie sieht es mit Groupies aus? „Das wird selten an uns rangetragen.“ Mit Anfeindungen im Internet, wie sie derzeit die österreichische Journalistin Stefanie Sargnagel wegen eines ironischen Texts über eine sexuell aufgeladene Marokkoreise erlebt, haben Reis und Ernst bisher nicht zu kämpfen. „Da muss man noch famer für sein“, vermutet Ernst. Bei Grund 52, Witzigkeit, steigen wir aus.Unweit des Ausgangs wird ein Ausschnitt aus Luis Buñuels Film Das Gespenst der Freiheit (1974) an die Wand geworfen. Eine großbürgerliche Familie hat eingeladen, man begibt sich zu Tisch, um den anstelle von Stühlen Kloschüsseln stehen. Mit heruntergelassenen Hosen sitzen sie dann alle da, rauchen, und unterhalten sich über alles Mögliche, vor allem über Ausscheidungen, nur das Thema Essen ist tabu. Irgendwann steht der Gast auf und fragt die Bedienstete diskret nach dem Speiseraum, woraufhin ihm der Weg in ein abschließbares Separee gewiesen wird, wo er ein Hühnerbein verzehren kann. Mit Schnipo Schranke verhält es sich ähnlich. Was andere unter Verschluss halten, bringen sie auf den Tisch. Daniela Reis formuliert es so: „Wir ziehen einfach die Grenzen etwas anders als andere.“Placeholder infobox-1
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