Es ist dieser Tage ja nicht mehr so einfach, Fiktion und Wirklichkeit zu trennen. Seit ich den Trailer zu der Netflix-Serie Aufräumen mit Marie Kondo gesehen habe, muss ich nur leicht die Augen zusammenkneifen, und schon erscheint in der Tür zu unserem Redaktionsbüro die japanische Meisterin des methodischen Ausmistens. Sie knipst ihr Lächeln an (und mit dem Ellbogen unser unmögliches Deckenlicht, was jedem passiert, der sich in den Türrahmen lehnt), kreischt „Heyyy“, klatscht in die Hände und sagt: „Let’s get started.“ Falls Sie jetzt denken, sie finge dann an zu singen, sind Sie im falschen Film (Mary Poppins’ Rückkehr vermutlich).
Marie Kondo veröffentlicht seit 2011 erfolgreich Ratgeber, in denen sie erklärt, wie man sich von unnötigen Sachen trennt. Im Englischen gibt es inzwischen das Verb „to kondo“ für radikales Ausmisten. Auf Netflix macht Marie Kondo jetzt, was Super-Achiever in Fernsehserien so machen: Sie besucht weniger aufgeräumte Zeitgenossen zu Hause und bringt sie in die Spur.
Womit wir zurück in der ernüchternden Realität unseres Büros wären. Der „Arzneitee im Pyramidenbeutel“ in meinem Regal muss dem Ex-Ex-Ex-Verantwortlichen für das Wochenthema gehört haben, das Ablaufdatum 2013 spricht dafür. Die Frage, ob er mich glücklich macht – so kondoieren Profis –, ist schnell verneint. Ich sage „Danke“ zu der Packung – s. o. – und werfe sie in den Müll. Härter sind Dinge, deren Geschichte über ein paar Tage mit trockenem Husten hinausreicht. Die Monatsspielpläne der Volksbühne unter dem Intendanten, den es nicht mehr gibt: Ein Fall fürs Archiv? Die Asterix-Heftzettel liegen im Regal, seit Georg Seeßlen für uns den Band mit dem Whistleblower besprochen hat (der Freitag 43/2015), dem wir eine Woche hinterhergejagt sind.
Und dann ist da die Postkarte, die der Kurator Kaspar König vergangenen Herbst geschickt hat, um an unserer Umfrage (der Freitag 41/ 2018) teilzunehmen, ob es wirklich besser für alle wäre, wenn die CSU mit der AfD koaliert („Nein“, antwortete König, wie alle Angefragten). Für die Zeitung kam die Karte zu spät, aber auf der Rückseite ist eine schöne, handgemachte Flughafen-Collage, die auf den Grund der Verzögerung verweist. Die Karte kommt an die Wand, neben das Plakat von Wolfgang Tillmans. „Say you’re in if you’re in“, steht darauf, und die Aufforderung, am 23. Juni „Remain“ zu wählen (der Freitag 18/2016). Dass ich es nach dem Brexit-Referendum nicht abnahm, liegt wohl daran, dass ich insgeheim noch auf einen anderen Ausgang dieser Geschichte hoffe. Mein Kondo-Kompromiss: Am Tag des endgültigen EU-Austritts von Großbritannien fliegt es in den Müll. Für ein „Danke“ wird mir vermutlich die nötige Aufgeräumtheit fehlen.
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