„Sichtbar verletzlich“

Interview Die Museen müssen sich auf neue Bedrohungen besser vorbereiten, sagt Konservierungs-Experte Stefan Simon
Ausgabe 44/2020
Säureattacke in der Alten Pinakothek München 1988: Kunst ist Risiko ausgesetzt
Säureattacke in der Alten Pinakothek München 1988: Kunst ist Risiko ausgesetzt

Foto: Rolf Hayo/Imago Images, Everett Collection

Am 3. Oktober beschädigten Unbekannte mehr als 70 Kunstwerke und Antiken auf der Berliner Museumsinsel mit Öl, betroffen waren unter anderen das Pergamonmuseum und die Antikensammlung. Erst knapp drei Wochen später erfuhr die Öffentlichkeit davon. Deutschlandfunk Kultur und Die Zeit, die exklusiv über den Vorfall berichteten, verwiesen auf einen möglichen Zusammenhang mit rechtsradikalen Verschwörungstheorien. Am Samstag dann wurde die große Granitschale vor dem Alten Museum mit Graffiti beschmiert. Eine Verbindung ist nicht erkennbar. Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, sprach dennoch von einer „neuen Bedrohungslage“. Stefan Simon ist Leiter des Rathgen-Forschungslabors, das 1888 mit dem Ziel gegründet wurde, Museumsobjekte besser zu erhalten. Bereits im September mahnte er auf der Konferenz „Museen und Sicherheit“ des Deutschen Museumsbunds ein besseres Risikomanagement an.

der Freitag: Herr Simon, Kulturstaatsministerin Grütters sagte, es sei jetzt zu klären, „wie solche Angriffe in Zukunft verhindert werden sollen“. Sie schrieben daraufhin auf Twitter: „Risk avoidance is not risk management“. Was genau bedeutet das?

Stefan Simon: Wenn man Objekte Menschen zugänglich machen will, was ja dem kuratorischen Ethos entspricht, kann man Risiken nicht ausschließen. Man muss sie identifizieren, analysieren und im Verhältnis zueinander evaluieren, um dann eine informierte Entscheidung treffen: Was akzeptieren wir und was nicht? Der Fehler ist, dass wir dies bisher in Deutschland noch nicht in der notwendigen Gründlichkeit gemacht haben.

Woran liegt das?

Das Bewusstsein ist noch nicht ausreichend entwickelt. Die präventive Konservierung, ein Thema, das uns im Rathgen-Forschungslabor eigentlich seit der Gründung 1888 beschäftigt, ist sehr arbeits- und ressourcenintensiv. In den USA sagt man dazu : „It is not donor-sexy“ – es interessiert jemanden, der Geld für ein Museum spenden will, nicht besonders. Dem Donor geht es eher darum, einen neuen Flügel im Museum zu eröffnen oder den Ankauf eines Gemäldes zu ermöglichen. Man möchte lieber neue Museen bauen, als sich über die Kärrnerarbeit der präventiven Konservierung Gedanken zu machen.

Was beinhaltet die?

Es gibt eine Reihe von Schadensfaktoren: Feuerschutz, Lichtschutz, Insektenschutz, Chemikalienschutz, Einbruch und Vandalismus – insgesamt kennen wir zehn „Agents of Detoriation“, nach Studien des kanadischen Konservierungsinstituts CCI in Ottawa. Beim Brandschutz haben wir in Deutschland starke Werkzeuge und klare gesetzliche Vorgaben. Bei der Sicherheit ist der gesetzliche Rahmen nicht so robust , deshalb müssen wir uns diesem Thema besonders zuwenden. Wir sind da erst am Anfang. Zunächst müssen wir aufstellen, welche Werte wir in den Museen betreuen und pflegen. Diesen Kontext zu erforschen ist aufwendig. Manchmal haben wir Zugriff auf Versicherungswerte, aber es gibt auch die historischen Werte, die wissenschaftlichen Werte, die sozialen Werte, die ästhetischen Werte. Der Denkmalpfleger Alois Riegl hat das Anfang des 20. Jahrhunderts gut beschrieben. Erst aus einer Vielzahl von Perspektiven, die alle Mitarbeiter durch die gesamte Hierarchie, aber vielleicht auch die Besucher und Herkunftsgesellschaften einschließt, können wir den „Value Pie“, die Bedeutung der Sammlung ermitteln. Konservierung ist dynamisch, nicht statisch, und wir erleben seit einigen Jahren, dass die traditionellen Autoritäten durchaus Entscheidungskompetenzen abgeben, in der Forschung spricht man von einem Übergang der „kuratorischen“ zu einer neuen „ökologischen“ Konservierung. Ein Beispiel sind die Diskussionen in den USA um die sogenannten Konföderierten-Denkmäler und Black Lives Matter seit 2015. Im Zuge des Vorfalls auf der Museumsinsel haben wir jetzt in der SPK eine Task Force gegründet, die sich ein ganzheitliches Risk-Management als Aufgabe gegeben hat.

Welche Rolle müssen die politischen Umstände beim Risikomanagement spielen?

Risikomanagement ist ein zyklischer Prozess, mit Feedbackschleife, kein Protokoll. Es muss kontinuierlich aufgesetzt und betrieben werden. Wenn wir einen breiten Katalog von Werten ermitteln, dann müssen wir auch einen breiten Katalog von Risiken ermitteln, denen diese Werte ausgesetzt sind. Wir hatten 2015 den Anschlag auf das Nationalmuseum Bardo in Tunesien, bei dem zahlreiche Besucher erschossen wurden. Ich habe damals die Diskussionen in den USA erlebt: Was macht die Terrorgefahr, sind wir hier richtig aufgestellt? Ich kann mich nicht erinnern, dass wir die bisher in der notwendigen Intensität in Deutschland geführt hätten. Die Antwort darauf sind nicht unbedingt Metalldetektoren.

Zur Person

Stefan Simon, geb. 1962, ist Chemiker und seit 2005 Leiter des Rathgen-Forschungslabors der Staatlichen Museen zu Berlin. 2014 wurde er für fünf Jahre beurlaubt, um das Institute for the Preservation of Cultural Heritage (IPCH) an der Universität Yale aufzubauen

Sondern?

Sogenannte „weiche Faktoren“ sind oft auch sehr wirksam. Zum Beispiel die Verhaltensmustererkennung, wie man ihr in Israel auf dem Flughafen begegnet. England hat Erfahrung mit Volunteers, oft älteren Damen, die mit den Besuchern gern ins Gespräch kommen. Wenn Diebe kommen, um die Sicherheitslage abzuchecken, kriegt so eine alte Dame in fünf Minuten vielleicht raus, wo deren Kinder zur Schule gehen, was sie für ein Auto fahren, ob sie verheiratet oder geschieden sind, und dann sagt sich der Dieb vielleicht, gehe ich besser woanders stehlen.

Welche Objekte Reizstoff bieten, wissen die Kuratoren am besten.

Sie erleben da gerade eine zweite neue Qualität: Die immer stärker werdende Kritik an den öffentlichen Einrichtungen – und zwar sowohl seitens der Gesellschaft und der Politik, nicht nur bei uns, sondern weltweit. Wir konstatieren zum Beispiel in Polen massiven politischen Druck auf Museumskuratoren, was ausgestellt wird, wie es ausgestellt wird. In den USA sehen wir das auch verstärkt in den letzten Jahren. Wenn diese populistischen Tendenzen weiter um sich greifen, wird der Druck auf die Museen vermutlich zunehmen. Ich mache mir Sorgen, dass es für Kuratoren schwieriger wird, auch mal was Provokantes zu machen. Und ebenso wird es schwieriger, sich um die physische Sicherheit unserer Besucher und unserer Objekte zu kümmern.

In der Debatte um koloniale Objekte wird oft das Argument vorgebracht, sie seien in ihren Herkunftsländern nicht sicher. Ist das nicht eine hochmütige Haltung, angesichts dessen, dass viele davon Tausende von Jahren alt sind und hier vor gerade einmal 75 Jahren im großen Stil Kulturgüter vernichtet wurden?

Absolut. Ich erinnere mich an ein Abendessen mit Irina Antonowa, das ist jetzt 15 Jahre her, damals war sie Direktorin des Puschkin-Museums in Moskau. Sie sprach davon, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg in Russland Hunderte Museen ausradiert haben. Damals ging es um eine Gesetzesänderung, um die von der sogenannten Trophäenkommission nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland verbrachten Objekte in Russland zu nationalisieren. Es gibt immer verschiedene Perspektiven. Aber die Perspektive, andere Länder könnten nicht richtig auf ihr Kulturgut aufpassen, die wäre auch dann falsch, wenn wir hier ein vorzügliches Risikomanagement hätten. Es ändert ja nicht den Anspruch auf Eigentum, den eine Herkunftsgemeinschaft erhebt, nur weil sie vielleicht über weniger Kameras verfügt als wir. Was mitunter ja gar nicht mehr zutrifft. Wenn Sie vom Alter der Objekte sprechen, kommt ein anderer Faktor hinzu: Was soll denn unser Erhaltungshorizont sein? Soll der fünf Jahre sein, soll der 50 Jahre sein, soll der 500 Jahre sein?

Da gibt es keine Übereinkunft?

Wahrscheinlich würden viele Museumsdirektoren und Restauratoren sagen: Wie, Erhaltungshorizont? Aber Kunst und Kulturgut wird nicht auf immer zu erhalten sein, das ist einfach unmöglich. Mit der Zeit und mit Wasser, hat Leonardo da Vinci gesagt, verändert sich alles, und da ist etwas Wahres dran. Deswegen sind wir gut beraten in der Konservierungswissenschaft und bei unserer Betrachtung der Risiken, erst mal auf einen Erhaltungshorizont von circa 50 bis 100 Jahren abzuzielen. Wobei Stephen Hawkings fürchtete, so lange könnte die Menschheit womöglich gar nicht überleben. Aber vielleicht sind 100 Jahre als Ziel gar nicht so schlecht. Wenn Sie 500 oder tausend Jahre anstreben, werden ihre Maßnahmen viel aufwendiger und teurer und dann ist die Frage, wie ist das finanzierbar.

Eine Besonderheit bei Kunst ist ja, dass man sehr leicht großen Schaden anrichten kann.

Richtig. Diese Attacken im Juli in der Wewelsburg in Paderborn und jetzt in Berlin ...

Sie gehen von einem Zusammenhang aus?

Es wurde in beiden Fällen pflanzliches Öl verwendet und auch die Spritzmuster scheinen durchaus vergleichbar. Ich kann jetzt keine Beispiele nennen, aber ich weiß von anderen Einrichtungen in Deutschland, die in den letzten Wochen etwas Ähnliches erlebt haben. Das ist jetzt reine Spekulation, aber es gibt ja immer wieder Cyberattacken auf Unternehmen, bei denen Hacker eindringen und gar keinen Schaden anrichten, nur um zu zeigen: So verletzlich seid ihr. Was wir hier sehen, ist ähnlich. Man führt die Museen am Nasenring durch die Arena und sagt, kuck mal, Sicherheit, Ermittlungserfolge, Aufklärung alles mit Luft nach oben. Und wir können’s einfach machen und werden nicht bestraft. Das war übrigens seit 2015 auch ein Thema auf unserer Tagungsserie mit dem V&A-Museum „Culture in Crisis“ im Hinblick auf den vom Islamischen Staat und anderen Terrororganisationen praktizierten Ikonoklasmus: dass man Kulturgut in großem Maßstab zerstören, ganze Tempel sprengen kann, was viele Leute schockiert, aber am Ende straffrei bleibt. Wichtig war den Tätern, ihre von der UNESCO als Kriegsverbrechen bezeichneten Taten in professionell gemachten Filmen darzustellen und der erschütterten Weltöffentlichkeit zu präsentieren: Das können wir machen.

Gewaltige Bilder gibt es in diesem Fall nicht.

Das stimmt. Aber auch der Vorfall vom 3. Oktober ging durch die Weltpresse. In der New York Times und im Guardian wurde über diese Flecken berichtet, weil sie symbolisch so wirksam sind.

Eine Beschmutzung.

Genau. Man kann schon sagen: Die Verletzlichkeit, die sich hier zeigt, ist weltweit sichtbar. Vielleicht steht sie auch für ein neues Bedrohungsszenario. Wir stehen hier alle in der Verantwortung. Wie unser Präsident Hermann Parzinger zutreffend gesagt hat: „Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir unsere kulturellen Werte verteidigen.“

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