Ein Leser schickte uns einmal einen Wandteppich zu, den er das Jahr über aus gefalzten Seiten unserer Zeitung geknüpft hatte. Die Anleitung dafür kam aus einem Upcycling-Buch, einer Aboprämie.
An diesen Teppich musste ich jetzt wieder denken, als ich das Foto Name, Stadt, Land von Monika Andres sah, das Teil einer Ausstellung in Dresden über „Radikale Künstlerinnen hinter dem Eisernen Vorhang“ ist. Andres trägt auf diesem Foto einen Anzug und einen Hut, die sie aus alten Ausgaben des Sonntag geschneidert hat, einer der drei Vorgängerzeitungen des Freitag. In Erfurt gehörte Andres seit den 1980ern verschiedenen Künstlerinnengruppen an, die ein anderes Bild von „Frauenschönheit“ vermitteln wollten. Statt in weiche, fließende Stoffe kleidete sie sich 1988 in die von ihr abonnierte Zeitung, die den Ruf weg hatte, unbequem zu sein. Ihre Idee, schreibt sie, sei es gewesen, den „Körper zum Informationsträger zu transformieren“.
Zwei Jahre später erschien am 4. November 1990 die letzte Ausgabe des Sonntag, die in unverwüstliche Plastikfolie eingenähten Artikel überlebten ihn. Letztmalig, schreibt Andres, sei ihr Anzug 1994 auf der Europabrücke zwischen Kehl und Straßburg zur 1.-Mai-Demo des DGB „in Bewegung“ gewesen.
Womit wir bei dem Farbforschungsinstitut Pantone wären, das soeben verkündet hat, wie wir uns die Farbe des Jahres 2019 vorzustellen haben. Mein Tipp wäre Pantone 394 gewesen, das Gelb der Warnweste EN ISO 20471, die gerade in Straßburg und ganz Frankreich gewaltig in Bewegung ist. Aber offensichtlich kam der jüngste Trend zu spät, um von den Spähern des Unternehmens berücksichtigt zu werden. Geht es nach Pantone, dann soll 2019 im Farbton 16-1546 erstrahlen: „Living Coral“. Von Laien ist er leicht mit der Farbe von gekochtem Hummer zu verwechseln, was semantisch komplett in die Irre führt. „Living Coral“ ist ein „lebensbejahender“ Farbton, sagen die Experten. „In einer sich ständig verändernden Umwelt“ soll das Korallenrot uns „Trost und Elan spenden“. An Zynismus ist das schwer zu überbieten: 40 Prozent der weltweiten Korallenriffe sind ausgebleicht und abgestorben, schuld sind die von uns mitverursachten Umweltveränderungen. Wenn man ehrlich ist, verhält es sich doch so: Die Farbe wird erst im Moment ihres Verschwindens für die Mode attraktiv. Insofern sehe ich mit Argwohn, dass das junge Pariser Trendlabel Afterhomework kürzlich einen Anzug im Zeitungslook vorgestellt hat. Von Näh- und Bastelarbeiten mit unserer Zeitung bitte ich Sie künftig abzusehen.
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