Der Schriftsteller Christian Kracht hat öffentlich gemacht, dass er als Internatsschüler von einem Pastor in Kanada missbraucht worden sei. 40 Jahre lang, so erzählte es der Autor vergangene Woche bei seiner Poetikvorlesung an der Goethe-Universität in Frankfurt, sei er davon ausgegangen, er habe sich nur eingebildet, dass dieser Mann ihn striemig schlug und anschließend onanierte. Bis er im Zuge der Weinstein-Enthüllungen zufällig in einem Magazin auf einen Artikel stieß, in dem über rund 30 Jungen berichtet wurde, denen von eben diesem Pastor Ähnliches angetan worden war.
Der Fall zeigt einmal mehr, dass #metoo nicht nur Frauensache ist. Und dass auch Männer davon profitieren, wenn ein Klima geschaffen wird, in dem Machtmissbrauch und Machtasymmetrien benannt und verurteilt werden können.
Etwas Vergleichbares beschrieb die FAS-Redakteurin Julia Encke kürzlich in einem Text über Missbrauch im Castrum Peregrini, einem vom George-Kreis inspirierten Zirkel in den Niederlanden. Die beiden Männer, mit denen sie sprach, hatten 30 Jahre, auch untereinander, über ihre Erfahrungen geschwiegen. Erst als Frauen im Präsidentschaftswahlkampf Donald Trump sexuelle Belästigung vorwarfen und das Thema so durch die Fernsehnachrichten auch in ihrem Wohnzimmer ankam, begannen sie miteinander über das Erlebte zu sprechen.
In der Debatte um #metoo wurde immer wieder kritisiert, dass die Frauen, die unter diesem Hashtag ihre Erlebnisse teilten, sich zu Opfern machten. Die Rede von der „Opferecke“, in die sie sich damit vermeintlich stellen, klingt allerdings verdächtig nach fünfte Klasse Schulhof, wo „du Opfer“ ein Synonym für „Loser“ ist. Was aber heißt es, Opfer zu sein? Erst einmal bedeutet es nur, dass jemandem Schaden zugefügt wurde. Darüber nicht zu schweigen, ist der erste Schritt, um einen Anspruch geltend zu machen, also etwas einzufordern – eine Entschädigung, die Bestrafung des Täters, eine Entschuldigung oder vielleicht auch nur das: gehört zu werden.
Dass dies im Zuge der Enthüllungen von Frauen auch immer mehr Männer ohne Angst vor Stigmatisierung tun, zeigt einmal mehr, wie feministische Anliegen die Emanzipation aller Geschlechter voranbringen können.
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