We are Family

Sippschaften Die Kellys sind zurück und Beyoncés Zwillinge gefallen auf Instagram 10 Millionen. Über das Erfolgsmodell Familie im Popbusiness
Ausgabe 30/2017
Die Kelly Family wird 2018 mit ihrem Comebackalbum wieder durchs Land tingeln
Die Kelly Family wird 2018 mit ihrem Comebackalbum wieder durchs Land tingeln

Foto: Imago

Auf der Auktionsplattform Catawiki wurde neulich ein Doppeldeckerbus angeboten, der sich von Januar 2003 an für unbestimmte Zeit im Besitz der Kelly Family befunden haben soll. Weder äußerlich noch innerlich war ihm das anzusehen. Der Namensschriftzug sei überlackiert worden, stand in der Anzeige, der Nachbesitzer habe ihn 2008 zu einer rollenden Kneipe umgebaut: „Auf der oberen Ebene ist eine Bar eingebaut, einschließlich Zapfanlage und Kühlung.“ Neu sei auch die Chemietoilette. Schätzwert: 32.000 bis 42.000 Euro.

Offensichtlich handelte es sich um einen Fake-Bus. Drei Tage vor Ende der Auktion schrieb Joey Kelly auf Facebook, seine Familie sei mit diesem Exemplar nie auf Tour gewesen. Das Angebot verschwand.

Star für die Scheidungskids

Als 1994 das Kelly-Family-Album Over the Hump erschien, gefiel das in Deutschland über zwei Millionen Menschen, was damals noch bedeutete: Sie kauften die CD. Auf dem Cover standen neun rotwangige Kinder, Teenager und Twens vor der Kulisse einer irischen Steilküste, sie trugen mittelalterliche Kluft und sahen rundum kernig aus. Einen plumperen Gegenentwurf zu den Heroin-Chic-Kampagnen von Calvin Klein mit Kate Moss hätte sich keine Werbeagentur ausdenken können. Heute würde man vielleicht kritisch reflektieren, dass sich in der Häme über die Kelly Family auch ein Klassismus ausdrückte. Der Spiegel zum Beispiel nannte das Familienoberhaupt Dan Kelly einen „Star für alleinerziehende Väter, Altenpflegerinnen und Scheidungskids“ und die Band eine „singende Altkleidersammlung“.

Die Kelly Family war zwar keine klassische Familie, doch während in Deutschland die Zahl der Scheidungen stieg und die der Geburten abnahm, verkörperten der verwitwete Vater und seine neun Kinder in ihrem Doppeldeckerbus Werte wie familiären Zusammenhalt und die Hintanstellung des eigenen Egos zum Wohle der Gemeinschaft. Wenn die Brüder Angelo und Paddy An Angel sangen, flossen in den Mehrzweckhallen Rotz und Wasser. Familie galt wieder etwas.

1994 war aber auch das Jahr, in dem Nirvana-Sänger Kurt Cobain sich erschoss und der Hype um die Band ihren Höhepunkt erreichte. Mit den Kellys verband Kurt Cobain höchstens, dass er seine Hemden und Pullover anfangs wirklich aus zweiter Hand bezog. Kids, die Smells Like Teen Spirit hörten, träumten nicht von Busreisen mit der Familie, sie zogen sich in Keller und Garagen zurück, verklebten die Wände mit Eierpappen und drehten die Gitarrenverstärker auf.

Musik wird oft als Ersatzreligion bezeichnet. Bands wiederum sind für viele so etwas wie eine Ersatzfamilie. Am konsequentesten zogen das Mitte der 1970er Jeffrey Hyman, John Cummings, Douglas Glen Colvin und Tamás Erdélyi durch, die sich alle den Nachnamen Ramone gaben. Auch spätere Mitglieder der Ramones behielten diese Tradition bei. Interessanterweise sind auch die Rollen innerhalb von Bands ähnlich klar wie in einer traditionellen Familie verteilt: Sängerin oder Sänger, Gitarrist oder Gitarristin, Bassistin oder Bassist, Drummer oder Drummerin – selbst die Aufstellung folgt einer Norm. Zwar gibt es auch Drummer, die Songs schreiben, aber man trifft sie im 20. Jahrhundert so häufig wie Ehemänner, die wissen, wie man einen Mohairpullover wäscht.

The Ramones: Richie, Joey, DeeDee und Johnny Ramone

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Singende Geschwister kommen indes nicht nur in der rührseligen Sparte gut an. Im Juni 1979 erreichen die Schwestern Kim, Debbie, Joni und Kathy Sledge alias Sister Sledge mit We Are Family Platz zwei der US-amerikanischen Billboardcharts. Auf Platz fünf folgen die Gibb-Brüder mit Love You Inside Out, auf Platz 14 The Jacksons mit Shake Your Body (Down to the Ground). Die Rockband The Doobie Brothers hingegen – Platz 16 mit Minute by Minute – verband lediglich die Liebe zum Marihuana, weshalb sie sich, grob übersetzt, die Tütenbrüder nannten. Abgesehen von Donna Summer war die Disco in jenen Wochen jedenfalls eine reine Familienangelegenheit.

Eingebetteter Medieninhalt

Auch andere Genres prägt diese spezielle Chemie: Brit-Pop hätte ohne den Bruderstreit von Noel und Liam Gallagher wohl eine wesentlich kürzere Halbwertzeit gehabt und ohne Angus und Malcolm Young wäre Hardrock vielleicht auf ewig das letzte Refugium der Männerdauerwelle geblieben. Eine deutsche Indietronicszene gäbe es vermutlich nicht, hätten die Brüder Markus und Micha Acher es nicht gemeinsam in der oberbayerischen Provinz ausgehalten, wo sie die Band The Notwist gründeten und mit Mario Thaler in den Uphon-Studios den Weilheimsound entwickelten.

Mit Danielle, Alana und Este Haim sind aktuell in den USA und Großbritannien wieder einmal drei Schwestern in den Top Ten. Als Kinder sollen die drei Kalifornierinnen bereits mit Mutter und Vater in einer Coverband gespielt haben. Auffallend viele Geschwisterbands sind familiär vorbelastet. Exemplarisch liest sich etwa der Wikipedia-Eintrag der Band Echosmith, drei Brüder und eine Schwester aus Los Angeles, deren Single Cool Kids 2014 durch hartnäckige TV-Auftritte ein Sommerhit wurde: „Die Geschwister wuchsen in einem musikalischen Haushalt auf und kamen deshalb bereits in ihrer frühen Kindheit mit diversen unterschiedlichen (sic!) Musikinstrumenten in Kontakt.“ So wie Bauernsöhne früher den Hof des Vaters übernahmen oder Unternehmerkinder ins Familienbusiness einstiegen, scheint auch für Musikerkinder die Abnabelung nicht leicht zu sein. Mumford & Sons stehen hingegen ebenso wenig in einem echten Verwandtschaftsverhältnis wie die Ramones und die Doobie Brothers. Ganz zu schweigen von den Böhsen Onkelz, Oma Hans und Der Tante Renate.

Noch so eine Koinzidenz: Als sich in den 2000er und 2010er Jahren neben der Vater-Mutter-Kind(er)-Familie zunehmend Patchworkmodelle etablieren, wird auch die klassische Band durch andere Konstellationen abgelöst. Kollektive wie Arcade Fire und Broken Social Scene sind erfolgreich, der Spruch „It takes a village to raise a child“ gilt nun auch für Alben. Hip-Hop-Superstars wie Kendrick Lamar, Kanye West oder Jay-Z kooperieren mit anderen Künstlern, die Palette reicht von Chance the Rapper bis U2.

Die Mr.-und-Mrs.-Carter-Show

Dass die Sehnsucht des Publikums nach großen Familiensagen ungebrochen ist, zeigt die Popularität der Mr.-und-Mrs.-Carter-Show. Nachdem Beyoncé Carter-Knowles vergangenes Frühjahr auf ihrem Hit-Album Lemonade eine Affäre ihres Ehemanns Jay-Z zerlegt hatte, entschuldigte sich dieser vor ein paar Wochen mit dem Titelsong seines Nummer-eins-Albums 4:44. Das jüngste Kapitel wird nun über Instagram gespielt: Ein Foto des David-LaChapelle-Schülers Awol Erizku stilisiert Beyoncé mit ihren Babyzwillingen Rumi und Sir Carter vor einem Blumenaltar als Botticellis Venus feat. die Muttergottes. Stand der Likes bei Redaktionsschluss: 9.888.286.

Und die Kelly Family? Wird mit ihrem Comebackalbum We Got Love 2018 wieder durchs Land tingeln. Den Tränendrüsendrücker An Angel sang Angelo neulich in einer TV-Show mit seiner Tochter Emma. Bei den drei Vorabkonzerten im Mai in Dortmund stand auch ein Bus vor der Westfalenhalle. Die Kelly Family hat ihn kürzlich im Technikmuseum in Speyer wieder abgeholt.

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Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin Kultur

Christine Käppeler

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