Ginge es in diesem Text um eine TV-Serie, dann müsste hier eine Spoiler-Warnung stehen. Auf der zehntletzten Seite von Die Kunst der Revolte: Snowden, Assange, Manning bekennt der französische Philosoph Geoffroy de Lagasnerie nämlich etwas Erstaunliches: Das Internet sei eher nebensächlich für seine Abhandlung. Geoffrey de Lagasnerie, Jahrgang 1982, der an der Pariser École Nationale Supérieure d‘Arts de Cergy-Pontoise eine Professur hat, ist somit vielleicht einer der ersten Post-Internet-Philosophen.
In der Kunst hat sich der Begriff Post-Internet-Art seit einiger Zeit für die Werke einer jüngeren Generation durchgesetzt, die mit dem Internet aufgewachsen ist und es als ein Medium von vielen einsetzt. Post-Internet meint also nicht nach o
t also nicht nach oder jenseits des Internets, sondern eher im Gegenteil, dass es – anders als zuvor bei der Netzkunst – die künstlerische Praxis prägt, ohne zwingend ihr Gegenstand zu sein. Wenig überraschend sind eigentlich alle Post-Internet-Künstler Digital Natives.Lob der AnonymitätÄhnlich verhält es sich bei Geoffroy de Lagasnerie. Auch wenn seine Überlegungen technologisch grundiert sind, interessiert ihn nicht der virtuelle Raum, sondern die politische Bühne. Wie lassen sich dem Staat im Zeitalter des Internets erneut Grenzen setzen? Zwei Aspekte stehen für ihn dabei im Vordergrund: Anonymität und die Verweigerung rechtlicher Konsequenzen. De Lagasneries Ausgangspunkt ist der Unterschied zwischen dem Handeln von Chelsea Manning, Edward Snowden und Julian Assange und Akten zivilen Ungehorsams. Er beruft sich dabei auf die Definition des zivilen Ungehorsams des US-Philosophen John Rawls als „öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber politische gesetzwidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll“. Diese Handlungen haben oft einen hohen Preis, die Protestierenden riskieren Schläge, Haft, Repressalien, manchmal sogar ihr Leben. De Lagasnerie stellt das radikal in Frage: „Warum sollte die Politik (mich) etwas kosten?“.Diese Überlegung ist so simpel wie provokant. Muss Politik, wenn man sie ernsthaft betreibt, nicht anspruchsvoll, fordernd und anstrengend sein? Für de Lagasnerie verkörpert der anonyme Aktivist den Wunsch, sich von diesem Pathos zu befreien. Anonymität wäre dann ein Mittel, „um das Rederecht umzuverteilen“. Sie ermöglicht es prinzipiell jedem, die Stimme zu erheben, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Die meisten werden diese Strategie befürworten, wenn Insider Missstände in der eigenen Firma, im eigenen Ministerium oder anderen Institutionen anprangern.Anders verhält es sich, wenn die Motive undurchsichtig sind, wie im Fall der Hacker von Anonymous. Ihre Taten werden viele als feige bewerten. Ein Adjektiv, das übrigens auch John Kerry verwendete, um Edward Snowden anzuprangern, als der sich dem Zugriff des Staates entzog. De Lagasnerie verteidigt das Dispositiv der Anonymität ausnahmslos, da es grundsätzlich jedem ermöglicht, in die Politik einzutreten, ohne in Beziehung zu denjenigen treten zu müssen, mit denen man im Konflikt steht. „Die Anonymität“, schreibt er, „wäre dann der Name einer Technik der Aufhebung der Unterwerfung.“Anders gelagert sind die Fälle von Assange und Snowden, beide haben bewusst entschieden, sich zu exponieren. Sie haben sich einer möglichen Strafe – der Antwort des Staates, wenn man so will – entzogen, indem sie geflohen sind. „Sie geben sich das Recht“, schreibt de Lagasnerie, „das Gesetz nicht mehr als das eigene und als verpflichtend anzuerkennen.“ Snowden habe sogar – erfolglos – versucht, seine Staatsbürgerschaft abzulegen. Für de Lagasnerie ist das der zweite entscheidende Unterschied zu Akten des zivilen Ungehorsams: Snowden und Assange stellen mit ihrem Handeln nicht nur die Organisation des Gemeinwesens in Frage – in diesem Fall das Recht des Staates, Dinge vor seinen Bürgern geheimzuhalten – sondern im nächsten Schritt auch ihre Zugehörigkeit zu diesem Gemeinwesen. Anders gesagt: Sie lehnen die Verpflichtung auf eine durch den Zufall der Geburt vorbestimmte Nationalität ab.Anti-PegidaSnowden und Assange, so schreibt de Lagasnerie, könnten deshalb „Ausgangspunkte der Neubegründung einer radikalen politischen Philosophie sein, der es darum gehen würde, so viel Wirklichkeit wie möglich der freien Erwägung zu unterziehen. Die Zugehörigkeit zum Staat darf nicht mehr in Form eines Zwanges, sondern muss im Sinne einer Wahl gestellt und neu gedacht werden.“Das ist in der Tat ein radikaler Gedanke, angesichts der Debatte um Grenzschließungen wirkt er vielleicht naiv. Aber sein emanzipatorisches Potenzial liegt auf der Hand, wenn man sich das Gegenstück zum Weltbürgergefühl der Post-Internet-Generation ansieht: das trotzige „Wir sind das Volk“, mit dem sich Pegida-Demonstranten an die Flagge klammern, wenn sie ihren Hass auf die Regierenden auf die Straße tragen.Placeholder infobox-1Placeholder infobox-2