What’s up, America?

USA Die Kunst wurde seit dem Sturm auf das Kapitol in den Vereinigten Staaten ganz schön in die Pflicht genommen, um Orientierung zu schaffen
Ausgabe 03/2021

Wie es bei Reichsbürgers in der Kommandozentrale aussehen könnte, hat sich die Künstlerin Henrike Naumann 2017 im Berliner Kronprinzenpalais ausgemalt. Wo 1990 der Einigungsvertrag unterschrieben wurde, baute sie eine Wohnlandschaft aus Furnierholzschrankwänden mit silbernen Plastikarmaturen auf, wie man sie in den Jahren nach der Wende in Ost wie West in jedem großen Möbelhaus fand. Dazu Kernigeres wie eine Wandleuchte aus einem Methorn, unterm Fernseher ein Kaninchenfell, auf der Ablage ein Wikingerhelm. Das Reich nannte sie dieses beklemmende Interieur aus leeren Versprechen und profanen Kultgegenständen.

Für das Kasseler Fridericianum, das wie alle Museen bis auf Weiteres geschlossen ist, hat Naumann einen dreiminütigen Streifzug mit der Handkamera durch diesen Raum zu einem Video mit dem Titel Aesthetics of Power weiterentwickelt. Auf die Tonspur hat sie amerikanische Live-TV-Sendungen des Sturms auf das Kapitol gelegt. Im ersten Moment stellt sich das irritierende Gefühl ein, selbst unter umgekehrten Vorzeichen zur Invasorin zu werden, doch je konkreter die Moderator*innen die Vorgänge kommentieren, desto mehr nutzt es sich ab. Vielleicht wird man das mit mehr Abstand anders sehen. Wer es sich jetzt trotzdem schon anschauen möchte, kann das noch bis Ende des Monats unter fridericianum.org tun.

Die Kunst wurde seit dem 6. Januar ganz schön in die Pflicht genommen, um Orientierung zu schaffen. Der britische Kunstkritiker Jonathan Jones etwa empfahl den Amerikanern im Guardian, sich anzusehen, wie der Wahnsinn der Menschenmengen sich auf den Gemälden von Francisco de Goya Bahn bricht, dem das Metropolitan Museum in New York kommenden Monat eine große Ausstellung widmen will (so Corona es zulässt). Das monströse Grinsegesicht, das die Menge von Goyas Begräbnis der Sardine auf einem Banner mit sich führt – hat es nicht etwa eine Trump’sche Aura? Warum nicht etwa Hollywood die Vorlage für die Posen der Randalierer geliefert habe, sondern die amerikanische Ölmalerei, erklärt wiederum Adrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung. Allen voran sieht er Emanuel Leutzes Washington Crossing the Delaware als Quell der Inspiration, das den General und seine Männer kurz vor dem Sieg im Dezember 1776 über die hessischen Truppen der Briten in New Jersey zeigt. Diese „Gruppenpose“ sei ganz bewusst für die Kameras reinszeniert worden, auf dem Dach eines Polizeiwagens anstatt in einem Ruderboot. Vorlage für diese Artikel scheinen bei Jones wie bei Kreye die Social Media zu sein, wo es seit Langem populär ist, den Zeitgeist mit Gesichtern, Posen und Szenen aus dem Fundus der Kunstgeschichte abzugleichen. Und dann ist da noch Sebastian Smee, der in der Washington Post seinen Landsleuten empfiehlt, sich die Werke Philip Gustons in der National Gallery anzusehen – wenn sie dort 2023 endlich gezeigt werden. Ein Blick auf Gustons kleinkriminelle Ku-Klux-Klan-Kapuzen-Träger aus den 70ern könne jetzt hilfreich sein, um die „This-is-not-who-we-are“-Lüge zu den Akten zu legen. Derweil wurde im Inneren des Kapitols, wo die Fotografen und Soldaten vor der Inauguration kampierten, hartnäckig am Gegennarrativ gearbeitet. Das Foto vier Schwarzer Nationalgardisten vor der Statue von Rosa Parks wurde im Netz zigtausendfach geteilt.

Welche Bilder Geschichte schreiben werden? Das Smithsonian Museum jedenfalls ist längst mit der Musealisierung des Angriffs auf das Kapitol befasst. Ein Plakat hat es sich schon gesichert, auf dem steht: „Off with their heads – stop the steal“. Und die Institution hat sich mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit gewandt: Bewahren Sie bitte alles auf, das „künftig von Interesse sein könnte, darunter auch Social Media Posts“.

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Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin „Kultur“

Christine Käppeler leitet seit 2018 das Kulturressort des „Freitag“, davor schrieb sie als Redakteurin vor allem über Kunst und die damit verbundenen ästhetischen und politischen Debatten. Sie hat Germanistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften und Journalismus in Mainz und Hamburg studiert und nebenbei als Autorin für „Spex. Das Magazin für Popkultur“ gearbeitet.

Christine Käppeler

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