Ein Mann sitzt im Sessel. Die schweinslederne Sitzgruppe hat einer seiner Vorgänger aus den 1960er Jahren dagelassen. Wie auch den Schreibtisch in Eiche, erklärt Yannis Boutaris. Eigentlich nicht sein Fall. Die Möbel waren halt da, also sollten sie auch arbeiten.
In der nächsten Stunde wird Yannis Boutaris fünf Zigaretten rauchen und dabei seine Geschichte erzählen. Schmal ist er. Seine freundlichen Augen gucken aus einem ledrigen Gesicht. Ein griechisches Epos von einem Mann, der in 75 Lebensjahren an vielen Klippen gekentert ist und aus vielen Löchern wieder hochgeklettert. Aus der Alkoholsucht. Aus einem zerstörerischen Partyleben. Aus der Leere nach dem Tod seiner Frau.
Rauszukommen aus diesem Sessel ist trotzdem eine Herausforderung, gerade mit 75. Der Bürgermeister rappelt sich hoch, er will seine neuesten Pläne zeigen. Thessaloniki soll eine Holocaust-Gedenkstätte bekommen. Unten am Hafen auf einem alten Eisenbahngelände. 25 Millionen Euro soll das Projekt kosten, zehn Millionen hat die deutsche Bundesregierung zugesagt. Ein deutsches Architekturbüro war an den Plänen beteiligt.
Yannis Boutaris ist kein gelernter Politiker, aber er hat etliche Länder bereist, bis in die USA und nach Australien, um in jüdischen Gemeinschaften Geld für sein Projekt einzuwerben. Er ist kein Diplomat, aber er hat in Auschwitz Kränze niedergelegt. Yannis Boutaris ist Geschäftsmann seit 50 Jahren. Und hier, sagt er, liegt ein gutes Geschäft für seine Stadt, das er ankurbeln will. Thessaloniki ist mit mehr als 300.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Griechenlands im hohen Norden, in einem Großraum von eineinhalb Millionen Menschen. Ein Gefährte Alexanders des Großen gründete den Hafen, Dutzende Völkerschaften entwickelten die Stadt drumherum. Neuerdings gilt Thessaloniki als Leuchtturm des agilen, innovativen Griechenlands. Seit Yannis Boutaris hier waltet.
Absturz und Neuanfang
Das Klischee, die Griechen könnten nicht wirtschaften, sie könnten nicht haushalten und nicht wirkungsvoll investieren, nicht anpacken – Yannis Boutaris ist der gelebte Gegenbeweis. 2010 wählte ihn Thessaloniki zum Bürgermeister, als es wirtschaftlich nicht mehr schlimmer kommen konnte für die Stadt. Es war die Zeit, als es auch für Griechenland nicht mehr schlimmer kommen konnte. Als die europäischen Partner das erste von drei Rettungspaketen für das hochverschuldete Land schnürten, begann Boutaris mit 68 Jahren ein neues Leben. Das Leben als Polit-Star.
Griechenland-Krise
Die Wirtschaftskrise ab 2007 gab der ohnehin schwächelnden Wirtschaft in Griechenland den letzten Rest. Bereits ein Jahr vor dem EU-Beitritt betrug die Staatsverschuldung 104,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 2009 war sie auf 129,7 Prozent angestiegen. 2010 richtete die Troika, bestehend aus der Europäischen Zentralbank (EZB), der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), einen Rettungsschirm mit Hilfen in Form von Notkrediten und Notbürgschaften ein. Daran angeknüpft war eine rigide Austeritätspolitik, die Lohnkürzungen, zum Beispiel im öffentlichen Dienst und beim Mindestlohn, und Privatisierungen beinhaltete. Griechenland gilt als Versuchskaninchen für extrem neoliberale Politik.
Im Juli 2015 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Eurozone mit der neuen Regierungspartei Syriza auf ein drittes Hilfsprogramm. Dieses Paket läuft im August 2018 aus. Das Land ist weiterhin hoch verschuldet und in einer tiefen sozialen Krise. Ab 2019 sollen die Renten in Griechenland noch einmal um neun Prozent gekürzt werden. Fast die Hälfte der Rentner in Griechenland lebt inzwischen von weniger als 700 Euro im Monat. Jeder vierte Grieche über 65 gilt als armutsgefährdet. Jeder Dritte unter 18 Jahren ist von Armut bedroht. Momentan werden Schuldenerleichterungen für Griechenland diskutiert. Die Bundesrepublik Deutschland wehrt sich dagegen. Kredite und Anleihenkäufe zugunsten Griechenlands haben Deutschland Gewinne in Höhe von etwa 1,34 Milliarden Euro eingebracht. Das brachte eine Antwort des Bundesfinanzministeriums auf Fragen der Grünen im Bundestag hervor. Johanna Montanari
Yannis Boutaris kommt aus einer bekannten Dynastie von Weinbauern. Das Weingut übergab er 2002 seinen Kindern. Aus den Abstürzen seines Lebens macht der sechsfache Großvater keinen Hehl. Aus der überwundenen Alkoholsucht, dem Tod seiner Frau. Boutaris ist ein begabter Selbstvermarkter. Jedenfalls ist er keiner, der gewohnt ist, Zweiter zu sein. Als Bürgermeister der zweitgrößten Stadt Griechenlands hat er nur ein Ziel. „Das Ding ist“, sagt er und nimmt eine neue Zigarette. „Das Ding ist, wir müssen die beste zweite Stadt der Welt werden.“ Thessaloniki muss ein Beispiel geben, wie eine zweite Stadt funktionieren kann.
Eigentlich konnte er auch nicht viel falsch machen. Sein Amtsvorgänger kam wegen Korruption ins Gefängnis. Nichts hat wirklich funktioniert, als Boutaris sein Amt antrat. Dass aber jetzt viel anders laufen würde, zeigte schon die erste Herkulestat des alten Mannes. Die endlosen Streiks bei der Müllabfuhr beendete Boutaris mit klaren Ansagen. „Die merkten dann, wenn sie nicht meinen Entscheidungen folgen, dann überlasse ich den Müll dem privaten Sektor.“ Die Luft sei dann gleich viel frischer gewesen.
Der kommunale Haushalt war ein Desaster. Von den 5.500 städtischen Angestellten schickte er bis jetzt 2.000 in den Ruhestand. „Wir haben versucht, nicht nur den Eindruck zu machen, sondern auch Ergebnisse zu liefern, dass die Stadtverwaltung eine moderne Organisation ist.“ 2012 hatte er im zweiten Wahlgang mit 300 Stimmen Mehrheit knapp gewonnen – vier Jahre später fuhr er 58 Prozent ein.
2011 nahm die New York Times Thessaloniki auf unter „41 Städte, die man gesehen haben muss“. Die Zeitung schwärmt von einer „Stadt der Zukunft“, was die Menschen und den Lifestyle betrifft.
Dabei braucht keiner lange zu suchen, um die Griechenland-Krise im Stadtbild zu finden. Der Großraum Thessaloniki hat eine Jugendarbeitslosigkeit von 60 Prozent. Rentner, die Verlierer der griechischen Sparpolitik, verkaufen Taschentücher, Vogelfutter, billigen Schmuck. Die Kleinteiligkeit der griechischen Wirtschaft offenbart sich hinter den Schaufenstern tausender winziger Läden, die Poster, Motorradsitze oder Ikonen verkaufen.
Reichtum liegt unter der Erde und quillt hervor, wo ein Bagger in die Erde beißt. Es sind die Überreste von 2.300 Jahren Geschichte. Seit den 1980er Jahren soll Thessaloniki eine U-Bahn bekommen. Drei Anläufe brauchte es, mehrere Projektpleiten und damit verbundene Polit-Skandale. Die größte Herausforderung sind die Mauern, auf die die Tiefbauer überall stoßen. Hellenistische Tempel, römische Stadtmauern, byzantinische Finanzämter, jüdische und slawische Wohnhäuser. Für die Metro, die 2018 halbwegs fertig sein soll, sind das nur Hindernisse. Für Yannis Boutaris ein Schatz, mit dem sich Geld verdienen lässt: „Tourismus und die Identität der Stadt, das ist unser wichtigstes Kapital.“ Keiner, sagt er und kann es kaum fassen, hat diese Geschichte je wirklich gehoben. Bis er kam. Sagt er.
Boutaris hat ein junges Team um sich versammelt, das ordentlich Buch führt über die vielen Auszeichnungen, die der Chef international eingefahren hat: Bürgermeister des Monats Oktober der „City Mayors Foundation“ im Jahr 2012. Zwei Jahre später stand er auf dem 8. Platz der „Mayors of the World“-Liste.
Der britische Guardian feierte Boutaris als „Leuchtturm der Hoffnung für Griechenland“. Und Boutaris lässt sich gern feiern als einer, der nicht ins Rechts-Links-Schema passt. Ein Held muss anders sein als der Rest, wusste schon Homer. Boutaris betont seinen Gegensatz zur orthodoxen Kirche, der seine Gay-Pride-Paraden missfallen. Und er zelebriert die Kabbeleien mit der linken Syriza-Regierung in Athen. Was die von ihm halten, sei ihm doch „scheißegal“. Sein Job sei, die Stadt zu managen, dafür sei er schließlich gewählt worden.
Tätowierte Pranken
Solche Sprüche kommen gut an, gerade in Deutschland. 2015, auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise, als das Land ein drittes Rettungspaket brauchte und sich alle Welt über das Superstar-Gehabe des Finanzministers Yanis Varoufakis aufregte, tourte Boutaris durch deutsche Zeitungen als der „gute Grieche“. Ist er wirklich einer? Boutaris hebt die tätowierten Pranken von den Sessellehnen. „Guter Grieche, ich hab keine Ahnung, was das sein soll.“ Er ist eben ein Geschäftsmann – und zieht es vor, die Dinge wie ein Geschäftsmann anzugehen. Die jüdische Sache ist ein gutes Geschäft, dafür sprechen schon die Zahlen. Zeitweise zählte die jüdische Community in Thessaloniki 100.000 Menschen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden 95 Prozent ausgerottet – oder schafften die Flucht. Danach blieb nicht die kleinste Erinnerung an die jüdische Geschichte im Stadtbild. Über dem jüdischen Friedhof baute Thessaloniki die Aristoteles-Universität. Nichts sollte daran erinnern, dass griechische Behörden damals den Deutschen eifrig halfen, das jüdische Erbe der Stadt zu zerstören.
Der Exodus begann 1917 nach dem großen Feuer, da suchten viele Juden ihr Glück in Westeuropa. Der französische Literatur-Nobelpreisträger Patrick Modiano ist Nachfahre sephardischer Juden aus Thessaloniki. Genug Ansätze, um Geld zu verdienen, sagt der Weinhändler im Rathaus. Inzwischen besuchten 100.000 Juden pro Jahr die Stadt. 30.000 aus Israel, der Rest aus Amerika und Europa. „Türken und Juden suchen hier ihre Wurzeln“, sagt er. „Die Türken kommen mit alten Stadtkarten und suchen die Häuser ihrer Vorfahren.“
Vor allem suchen Türken in Thessaloniki die Spuren ihres Republikgründers. Kemal Atatürk war ein Diktator, sagt Boutaris, aber die Türken lieben ihn nun mal. „Wenn mehr als eine Million Griechen jedes Jahr nach Istanbul fahren, um die Hagia Sophia zu besuchen, wieso machen wir nicht einen Profit aus Atatürk?“ Also machte die Stadtverwaltung Werbung und überzeugte Turkish Airlines, zwei Flüge täglich von Istanbul nach Thessaloniki einzurichten. Das Haus, in dem der Beamtensohn Mustafa Kemal 1881 geboren wurde, in dem er lebte, bis sich die Familie nach dem Tod des Vaters 1888 mit einem kleineren Haus bescheiden musste, ist heute Teil eines Gebäudekomplexes, der dem türkischen Konsulat gehört.
Im Museum liegen Atatürks Suppenlöffel unter Glas und Atatürks Abendanzug. Seine Mutter sitzt als Wachsfigur auf einer Ottomane. Im Hof steht ein Baum, unter dem der junge Atatürk gespielt haben soll, steht jedenfalls auf dem Schild davor. 2016 kamen hunderttausend Türken auf Besuch, sagt Boutaris.
Die geben Geld aus. „Da ist es mir doch egal, ob wir Griechen Atatürk mögen oder nicht.“ Der gute Grieche fragt immer zuerst, was ihm ein Investment bringt.
Er könne nicht auf Anhieb sagen, was die Flüchtlingskrise seine Stadt gekostet hat. Thessaloniki liegt auf der Balkanroute, auf der noch immer viele Flüchtlinge ihr Glück versuchen, obwohl die Route seit einem Jahr so gut wie dicht ist. Als die Grenze nach Norden geschlossen wurde, brachte die Regierung die Flüchtlinge in Camps rund um Thessaloniki unter. Griechenland ist kein Traumziel. Die 60.000 Flüchtlinge, die das Land aktuell unterbringt, wollen nicht bleiben – sie hängen fest.
Die Leute wollten weiter nach Deutschland, das fachte den Geschäftsgeist in der Stadt an. Schnell bildete sich ein Schleppersystem, Taxifahrer oder einfache Autobesitzer kutschierten die Flüchtlinge für 15 Euro zur Grenze. Es ist eins von vielen lokalen Schleppersystemen, die entlang der Balkanroute gutes Geschäft mit den Menschen machen. Boutaris macht lieber Geschäft mit den wenigen, die bleiben wollen. Die konnte die Stadtverwaltung in Wohnungen unterbringen. Ihre Kinder gehen nachmittags in die Schule, wenn die griechischen Kinder schon zu Hause sind. Sie lernen Musik, Mathematik und zwei Sprachen. „Thessaloniki hat Einwanderer immer gut aufgenommen, wir haben Erfahrungen mit so was“, sagt Boutaris. Er glaubt nicht, dass die Stadt überhaupt irgendwelche Kosten durch Flüchtlinge hatte. Alles wurde bezahlt durch die Vereinten Nationen und die Europäische Union. Die Kommune hat am Ende profitiert. „Diese Leute essen, ziehen sich an, gehen in Kaffeehäuser. Viele haben durch sie Geld verdient.“
Die Deutschen, sagt Boutaris, gehen solche Sachen falsch herum an. Sie fragen immer zuerst nach den Kosten einer Sache. Er mag die Deutschen, er mag die Art, wie sie Aufgaben lösen. Ihm schmeckt Moselwein. „Die Deutschen sind verpflichtet, ob sie wollen oder nicht, Europa anzuführen.“ Leider wüssten sie manchmal nicht, wie man sich gut benimmt. Aber man komme schon miteinander klar.
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