Der unaufhaltsame Austritt des Andreas M.

Linke Wege Den Sozialdemokraten laufen die Mitglieder davon. In Brandenburg verlor die SPD bei den Kommunalwahlen mancherorts sogar gegen neugegründete Bürgerinitiativen

Es war in diesem Sommer, als er aus der SPD austrat. Der Partei, für die er sich 16 Jahre lang einsetzte und von der sich Andreas Martin so bitter enttäuscht sieht. In Brandenburg an der Havel sitzt er jetzt in einem engen, dunklen Büro mit einem riesigen Kachelofen und erzählt seine persönliche SPD-Geschichte.

Seit zwei Monaten engagiert sich Martin in der Wählervereinigung für Wirtschaft, Soziales und Kultur WirtSo. Das Büro befindet sich in dem mittelalterlichen Steintorturm, der an die Stadtmauer grenzt. Drinnen: drei Arbeitsplätze, auf dem Flur steht ein Drucker, Flyer und selbst gestaltete Broschüren liegen auf den Tischen und Stühlen. Martin wirkt angesichts des Chaos um ihn herum wie ein Ruhepol. Er steckt sich eine Zigarette an. Sein schmales Gesicht ist glattrasiert, die kurzen dunkelblonden Haare verleihen ihm ein jugendliches Aussehen. Blauer Rauch steigt auf.

Im August erst gründete Martin mit anderen die WirtSo, eine Initiative, die sich als "parteiunabhängig, konstruktiv und an Sachfragen orientiert" beschreibt, und begann, in den brandenburgischen Kommunalwahlkampf einzusteigen. Erfolgreich war er mit der WirtSo diesmal noch nicht, im Gegensatz zu anderen, sagt er. Leider.

Für die SPD wollte er nicht mehr kämpfen - nicht nachdem er in den vergangenen Jahren erleben musste, wie das Ansehen seiner Partei auch in den Kommunen gesunken ist. So direkt sagt er das nicht. Er sagt: "Es gibt in Brandenburg ein Beziehungs- und Interessengeflecht, das sich sehr stark verfestigt und einen gemeinsamen Nenner hat: die städtischen Ressourcen aufzuteilen." Das sei der eine Grund für seinen Rückzug, doch auch das, was Schröders rot-grüne Regierung in Berlin praktiziere, erleichterte ihm die Entscheidung, aus der SPD auszutreten. "Die SPD war mal die Partei des sozialen Ausgleichs, sie war sozial reformerisch, manchmal sogar revolutionär." Er zieht an der Zigarette, inhaliert. "Während sie derzeit eine Politik macht, die nur noch die Schwachen in dieser Gesellschaft belastet und die Stärkeren nur noch entlastet. Das ist schon schwer zu ertragen."

Martin ist gelernter Elektromechaniker, kommt aus Pirmasens, mit 19, im Jahre 1987 - Willy Brandt steht noch an der Spitze der Partei - tritt er in Kaiserslautern in den Ortsverein der SPD ein. Er engagiert sich besonders für soziale Projekte und die Umweltpolitik. Seine Vorbilder sind Brandt und der nordrhein-westfälische Landeschef Johannes Rau. Mut, Anstand und Gerechtigkeit verbindet der junge Martin mit diesen Namen. Er will sich einsetzen für Friedenspolitik, für den Ausstieg aus der Atomenergie, für Entwicklungsförderung in der Dritten Welt. Dann kommt die Wiedervereinigung, und es scheint, als gäbe es Chancen für große Veränderungen. Martin zieht nach Brandenburg und setzt sich hier für seine Partei ein. Linke Politik will er vertreten und steigt bis zum Landesvorsitzenden der Jusos in Potsdam auf. In seiner neuen Heimat Brandenburg wird er 1999 zum Stadtverordneten gewählt. Lange her.

"Wenn man in einen Ortsverein geht, dann ist das so, als ob man am Videorecorder auf die Stopptaste drückt", sagt Martin. Jedoch will er nicht einen Tag seit seiner Übersiedlung in den Osten missen. Damals brach für viele Menschen eine Welt zusammen. In Brandenburg schloss man das Stahlwerk, 8.000 Arbeiter standen plötzlich ohne Job da.

"Damals hatte ich noch einen richtigen Motivationsschub, um hier was voran zu bringen." Leider erwiesen sich diese Hoffnungen allesamt als große Illusion. In Brandenburg blockierten jahrelang die Parteien vor Ort zahlreiche Neuansätze. "Öffentlichkeitsarbeit und Bürgerbeteiligung wurden nie groß geschrieben." Und während die Kommunalpolitik vor sich hin dümpelt, beobachtet er, wie sich der sozialdemokratische Reformkurs radikalisiert.

"Das ist schon merkwürdig, sich diesem Manchester-Kapitalismus so zu ergeben. Zu sagen: wir können die Reichen nicht mehr belasten, sonst haut uns das Kapital ab. Dem gar nichts entgegenzusetzen." Ein düsteres Lächeln zeichnet sich auf seinen schmalen Lippen ab. Düster sind, so findet er, auch die Aussichten für den Osten angesichts der "Agenda 2010". Diese Reform sei nur für den Westen tauglich.

Für eine Stadt wie Brandenburg verschlechtern sich die Perspektiven, denn bei einer Arbeitslosenquote von 23 Prozent leben sehr viele Bürger von Arbeitslosenhilfe. Wenn die wegbricht, wird sich die Lage verschärfen. Neue Arbeitsplätze sind nicht in Sicht. Nein, Martin kämpft nicht mehr für die SPD, aber eigentlich, so sagt er, müssten die Sozialdemokraten in einer solchen Region aufstehen und lautstarken Protest gegen ihre Führung organisieren. "Das sind doch keine Perspektiven für den Osten, der ökonomisch so im Argen liegt."

Irgendwann im Spätsommer hatte Andreas Martin genug. Genug von der SPD und ihrem Sozialabbau.

Der Aschenbecher füllt sich während des Gesprächs mit krummen, kalten Zigarettenstummeln. Der Drucker summt im dunklen Flur, ein Mitarbeiter braucht noch einige Dokumente.

Martin hat sich nicht in die "innere Emigration" zurückgezogen wie andere seiner ehemaligen Parteigenossen, er will sich weiter einbringen, den Menschen zumindest eine Alternative anbieten. "Man hat auch zu viele Detailkenntnisse, hat sich zu stark hineingearbeitet, um das Wissen und Engagement einfach brach liegen zu lassen." Er macht eine Pause zwischen diesen atemlos klingenden Sätzen: "So bin ich nicht gestrickt."

Am vergangenen Sonntag erhielt die WirtSo nur wenige Stimmen. Ein enttäuschendes Ergebnis. Doch Martin wird weitermachen. Aufgeben kann er nicht mehr.


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