Krieg hat unterschiedliche Auswirkungen auf die Geschlechter. Dennoch gilt es zu Recht als überholt, Frauen lediglich als Opfer zu sehen. Dies ist auch in der Ukraine der Fall. Seit dem 24. Februar 2022 haben ukrainische Frauen und Frauenorganisationen eine führende Rolle bei der Organisation und Verteilung von humanitärer Hilfe übernommen, Kriegsverbrechen dokumentiert und gesellschaftlichen Zusammenhalt gestärkt. Vielen ukrainischen Frauen sind in den vergangenen Monaten wichtige Aufgaben zur Repräsentation ihres Landes im Ausland zuteilgeworden, da kaum Männer im wehrpflichtigen Alter ihr Land verlassen dürfen.
Kriege setzen zwar oft durch neue Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Beteiligung von Frauen traditionelle Geschlechterrollen außer Kraft, sie können diese dennoch auf eine andere Weise verstärken. So wird es zum Beispiel als männliche Pflicht wahrgenommen, die Heimat zu verteidigen, während Frauen die Aufgabe zukommt, sich um Familie und Gesellschaft zu sorgen. Während ihre Partner an der Front kämpfen oder in der Ukraine geblieben sind, haben sich viele ukrainische Mütter im In- und Ausland quasi in der Rolle von alleinerziehenden Eltern wiedergefunden, die auch den gestiegenen Ansprüchen mit Blick auf die emotionale Betreuung ihrer Kinder und der ständigen Unsicherheit gerecht werden müssen.
Natürlich kämpfen auch Frauen in der ukrainischen Armee, sie machten 2022 22 Prozent der Streitkräfte aus (zum Vergleich: in Deutschland sind es zwölf Prozent) und wurden seit einigen Jahren unter anderem über das Projekt „Invisible Batallion“ sichtbarer. Dennoch schwindet in einem Kontext, in dem insbesondere militärische Expertise gefragt ist, bereits jetzt die Sichtbarkeit von weiblichen Expertinnen in den öffentlichen Medien. Nur 21 Prozent der Sitze im ukrainischen Parlament sind von Frauen belegt, und auch zukünftig könnte ihre Teilhabe in formalen Entscheidungsprozessen weiter sinken.
Die Teilhabe von Frauen und marginalisierten Gruppen sichern
Ähnliche Entwicklungen sind bereits aus anderen Kontexten bekannt, in denen sich nach Konfliktende hart errungene, durch die Umstände des Kriegs zustande gekommene Fortschritte im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit wieder umkehrten. In Folge des „Frauenüberschusses“ und der Zielsetzung, den von der Front zurückkehrenden Männern Arbeitsplätze zu garantieren, wurden zum Beispiel in (West-)Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verheiratete Frauen vom Arbeitsmarkt verdrängt – vorgeblich auch zum Wohl einer „gedeihlichen Familienatmosphäre“.
Was kann also geschehen, um Fortschritte im Punkt Geschlechtergleichheit nachhaltig zu fördern, und warum ist das eigentlich so wichtig? Die Bundesregierung hat vergangene Woche ihre Leitlinien zur feministischen Außen- und Entwicklungspolitik vorgestellt, die unter anderem die Zielsetzung beinhalten, die Teilhabe von Frauen und marginalisierten Gruppen in Entscheidungsprozessen zu sichern. Die Stärkung der Teilhabe von Frauen an Friedensprozessen und die Schlüsselrolle von Frauen beim Aufbau von Frieden wurde bereits in der UN-Resolution 1325 verankert, die der UN-Sicherheitsrat vor über 20 Jahren verabschiedete.
Die internationalen Unterstützer der Ukraine sollten diese Maßgaben ernst nehmen. Insbesondere bei der Planung von Wiederaufbaumaßnahmen sollte die bedeutsame Beteiligung von Frauen und marginalisierten Gruppen gefördert werden. Der Beitrag ukrainischer Frauen für die Resilienz und den Zusammenhalt ihrer Gesellschaft muss in formalen Entscheidungsprozessen reflektiert werden. Dazu ist es wichtig, dass die Bundesregierung und ihre Partner*innen bei ihren Vorhaben in der Ukraine wirkungsvolle Mechanismen zur Einbeziehung der ukrainischen Zivilgesellschaft schaffen und die Auswirkungen ihrer Maßnahmen auf Frauen und andere Minderheiten mitdenken. Schließlich ist bekannt, dass der Aufbau von inklusiven, gleichberechtigten und friedvollen Gesellschaften nur dann gelingen kann, wenn die Teilhabe aller Gruppen gewährleistet und ihr Beitrag wertgeschätzt wird. Ein „patriarchalischer Backlash“ nach Kriegsende könnte so schon jetzt vorbeugend bekämpft werden.
Eine feministische Antwort auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine sollte außerdem auch die vorherrschenden Machtdynamiken berücksichtigen. Denn Feminismus ist nicht nur Anti-Militarismus, sondern auch Solidarität mit den Unterdrückten und Angegriffenen, sowie mit den Opfern von massiven Menschenrechtsverletzungen und möglichen Kriegsverbrechen durch die russischen Truppen, deren Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
Eine feministische Antwort hält nicht unreflektiert am Antimilitarismus fest
Natürlich wollen wir alle mittel- und langfristig friedvolle Gesellschaften, in denen niemand Gewalt fürchten muss. Allerdings wird dieses Ziel kurzfristig in der Ukraine nicht erreicht, wenn man dem Land den Zugang zu den notwendigen Mitteln zur Selbstverteidigung gegen einen neoimperialen Angriff verwehrt. In den Worten der ukrainischen Nobelpreisträgerin Oleksandra Matviichuk: „Frieden kann nicht dadurch erreicht werden, dass ein angegriffenes Land seine Waffen niederlegt. Das wäre kein Frieden, sondern eine Besetzung.“ Dass die Besetzung der Ukraine den Ukrainer*innen keinen Frieden bringen kann, sollte spätestens seit den Erkenntnissen in Folge des russischen Abzugs aus Bucha im April 2022 klar sein.
Klar sollte auch sein, dass sich die Ukrainer*innen für Europa entschieden haben und jetzt für diese Entscheidung kämpfen. Bereits 2014 hörte ich von Maidan-Aktivist*innen oft: „Wir wollen einfach in einem ganz normalen Land leben.“ „Ganz normal“ bezeichnet in diesem Fall ein Land, in dem Volksvertreter*innen demokratisch gewählt werden, in dem Rechtsstaatlichkeit gilt und die Grundrechte aller Bürger*innen geschützt werden. Wichtige Schritte in diese Richtung bezüglich der Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten hat die ukrainische Regierung im vergangenen Jahr bereits mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention und einem Gesetz zum Schutz von LGBTQI*-Personen vor Hassrede unternommen. Mit Blick auf die Entwicklungen in Russland bezüglich der Rechte von sexuellen Minderheiten haben insbesondere viele ukrainische LGBTQI*-Personen das Gefühl, um ihr Überleben zu kämpfen.
Auch deswegen besteht eine feministische Antwort auf den russischen Angriffskrieg eben nicht in dem unreflektierten und starrsinnigen Festhalten an anti-militaristischen Doktrinen, die in einer Situation der Selbstverteidigung ihren Zweck verfehlen. Eine feministische Antwort bestände darin, sich mit den ukrainischen Frauen und marginalisierten Gruppen zu solidarisieren, die seit über einem Jahr mit verschiedensten Mitteln für das Bestehen ihrer Heimat als freies, demokratisches und selbstbestimmtes „ganz normales europäisches Land“ kämpfen.
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