Das Theater gehört mir!

Bürgerbühne In Dresden hat Tellkamps Roman „Der Turm“ Premiere. Unsere Autorin erklärt, warum Intendant Wilfried Schulz dennoch ­aufregendes Theater macht

Unaufhaltsam driftet der Student Anselmus aus E. T. A. Hoffmanns fantastischer Erzählung Der goldne Topf auf der Großen Bühne des Staatsschauspiels Dresden in eine surreale Parallelwelt ab: Statt die bürgerliche Karriereleiter emporzuklettern, schlägt er seine Zeit am Elbufer tot, verfällt einer mysteriösen Schlangenfrau und stolpert einem cholerischen Archivarius in die Arme, der eine Zweitexistenz als Salamander fristet. Etwa weiter, im Kleinen Haus, reist unterdessen der polygame Damenmaßschneider Adam seiner Evelyn an den Balaton nach. Adam und Evelyn stammen anders als Anselmus nicht aus der sächsischen Landeshauptstadt, dafür aber aus der Feder des gebürtigen Dresdners Ingo Schulze. Und wenn am 24. September Uwe Tellkamps Roman Der Turm uraufgeführt wird, der die letzten DDR-Jahre aus Sicht von Bewohnern des Dresdner Villenviertels Weißer Hirsch schildert, dürfte das Identifikationsangebot ans ortsansässige Bürgertum seinen Höhepunkt erreicht haben.

175.000 Zuschauer

So konkret hat bisher kaum ein Intendant ein „Stadttheater“ interpretiert: Dresdner Stoffe, Dresdner Autoren und spezifische Dresdner Konflikte dominieren den Spielplan, seit Wilfried Schulz die Bühne im Herbst 2009 übernommen hat. Selbst Wirtshauspossen, die in Murnau spielen und von österreichisch-ungarischen Dramatikern stammen wie Ödon von Horváths Italienische Nacht, werden hier vor der Haustür verortet: Hausregisseur Tilmann Köhler überblendet die appellhafte Politfarce um aufstrebende Faschisten und widerstandsunfähige Bürger von 1930 mit Videos aktueller Neonazi-Aufmärsche. Intendant Schulz bekennt sich zu diesem Profil: „In jeder Stadt, der man sich nähert, versucht man, eine spezifische Form der Reibung zu finden. Und die hat natürlich mit der mentalen Befindlichkeit und der Geschichte zu tun.“ Als früherer Chefdramaturg Frank Baumbauers in Basel und Hamburg sowie ehemaliger Intendant in Hannover kennt sich der 58-Jährige mit unterschiedlichen Mentalitäten aus. Wie es sich mit der Dresdner Befindlichkeit verhält – einer komplexen Mischung aus überdurchschnittlichem Kultur- und Bildungsinteresse sowie einem ebensolchen Traditionsbewusstsein –, schreibt Tellkamp: „Dresden ... in den Musennestern/wohnt die süße Krankheit gestern.“ Schulz formuliert prosaischer: Das „Phänomen des Konservativismus in all seinen Schattierungen“ sei ihm „sehr fremd“ gewesen, als er im Jahr vor seinem Antritt einmal pro Woche aus Hannover anreiste. Deshalb – siehe Der goldne Topf – auch die Auseinandersetzung mit der Romantik als Sehnsuchtsort.

Natürlich könnte man den Dresdnern ihre vermeintliche Mentalität auch um die Ohren hauen. Dafür hatte Schulzens Vorgänger Holk Freytag, der ansonsten nicht mit außergewöhnlichen Programmprofilierungsgedanken auffällig wurde, regelmäßig den Regisseur Volker Lösch engagiert, der mit dem „Dresdner Bürgerchor“ – einer schauspielerischen Laientruppe aus der Landeshauptstadt – dem Publikum in plakativen Inszenierungen vornehmlich rechtes Gedankengut vorwarf. Schulz ist eher ein Mann der Reflexion als des Reflexes. Zwar glaubt auch er in seinem Alltag zu spüren, „dass Dresden die Großstadt mit dem geringsten Fremdenanteil ist.“ Aber er denkt nicht nur daran, dass die NPD im Sächsischen Landtag sitzt. So spürt Schulz den Konservatismus etwa im Ästhetischen auf: „Ich habe hier mit Zuschauern Gespräche über den Werktreue-Begriff geführt, die ich seit 20 Jahren nicht geführt habe.“ Dass auch in Hamburg oder Hannover nicht jedem Zuschauer eingeleuchtet hätte, warum Ibsens faustischer Weltenwanderer Peer Gynt – wie in Nuran David Calis‘ Dresdner Inszenierung – unbedingt zum postmodernen Ghettokind und sexsüchtigen Nachtklubbesitzer mutieren muss, steht außer Frage. Aber hier treten die Anwälte der Werktreue „mit einem anderen Selbstbewusstsein auf“, sagt Schulz. „Oder – um es charmanter zu sagen – mit einer anderen Unschuld.“ Gegenüber neun Zehnteln des Publikums sei er jetzt ungerecht, baut Schulz gleich vor. Aber: „Hier gibt es Leute, die mit dem Anspruch auftreten: Das Theater gehört uns, und so, wie wir es jetzt erleben, wollen wir es nicht. In anderen Städten meiner Arbeitsbiografie hat kein Mensch gesagt: Das Theater gehört mir und ich definiere es.“

Darauf reagiert der Intendant, indem er die Traditionalisten einerseits eben mit Dresdner Stoffen und Autoren bedient und andererseits Regisseure engagiert, die als ästhetische (Hinter-)Türöffner fungieren. Die Barockstadt wird in Sebastian Baumgartens Version vom Goldnen Topf tausendfach aufgerufen, ihr Mythos aber gleichzeitig bildmächtig dekonstruiert. Und Julia Hölscher – eine der talentierten Regisseurinnen diesseits der 30, die unter Schulz regelmäßig in Dresden arbeiten – versucht Ingo Schulzes ostdeutsche Beziehungskiste mit ästhetischem Purismus universell zu deuten. Nicht, dass jeder Ansatz gelungen wäre! Aber dafür, dass das dahinter steckende Kalkül der Öffnung grundsätzlich überzeugt, spricht nicht nur das überregionale Interesse, das das Dresdner Staatsschauspiel seit Schulzens Amtsantritt wieder auf sich zieht. Auch die Zahlenbilanz kann sich sehen lassen: 175.000 Zuschauer kamen 2009/10; genauso viele wie in der letzten Saison unter Freytag. Wenn man bedenkt, dass es sich dabei um die beste Auslastung seit der Wende handelt und Freytag am Schluss gern mit ausstrahlungsreichen Gästen gearbeitet hat, darf sich Schulz bestätigt fühlen.

Autobiografie oder „Anatevka“

Zumal es ihm gemeinsam mit der Dramaturgin und Theaterpädagogin Miriam Tscholl gelungen ist, mit der „Bürgerbühne“ eine Institution zu begründen. „Anfangs wurde ich oft darauf angesprochen, dass ich doch hoffentlich nicht den berühmten Dresdner Bürgerchor auflösen würde“, sagt Schulz und lacht. Die nichtprofessionellen Darsteller aus Löschs Inszenierungen hatten sich allerdings nie als eigenständige Formation definiert. Schulz schwebte ein kontinuierliches „Moment der Partizipation“ vor: „Man gibt den Leuten ein Forum, sich künstlerisch zu äußern, und man gibt ihnen dafür Mittel an die Hand, auch Regisseure, Bühnenbildner, Musiker.“ Schulz und Tscholl haben die Arbeit mit Laien nicht erfunden; ein Pilotprojekt ist die Dresdner Variante dennoch, weil die Teilnehmer selbst entscheiden, ob sie lieber biografisch arbeiten oder Anatevka spielen und sich das Angebot nicht an spezifische Milieus oder Altersgruppen richtet, sondern an alle – was auf unglaubliche Resonanz stößt: Mit 50, bestenfalls 100 Interessenten hatte die neue Theaterleitung gerechnet, als sie letzten Herbst zu einem ersten Treffen einlud. Auf der Matte standen dann 400 Dresdner, vom Schulkind bis zur Rentnerin; Tendenz steigend. Die Bürgerbühne eröffne eine Möglichkeit, „nicht nur von der Quote, sondern auch von der sozialen Verpflichtung her ein anderes Publikum zu erreichen“, erklärt sich Schulz den Erfolg. „Wir haben ja das Problem, dass von Schauspielschulen immer nur nette junge Menschen mit drahtigen Körpern und hübschen Gesichtern kommen. Die Leute von der Bürgerbühne bringen ihr gelebtes Leben, andere Prägungen und andere Geschichten mit. Das Moment des Authentischen hat eine große Kraft.“

Der Dresdner Intendant könnte zufrieden sein. Die Frage, ob der Erfolg Kompromissbereitschaft erfordert, kontert er in mustergültiger Dialektik. „Das ist eine halb philosophische Diskussion, weil ich als gelernter Dramaturg natürlich dazu neige, die Dinge schon beim Ausdenken auf die besondere Situation hinzudenken.“ Soll heißen: „Als ich nach Dresden gegangen bin, war das eine bewusste Entscheidung, sich auf ein bestimmtes Spiel einzulassen. Ich würde nicht davon reden, dass ich mir etwas verboten oder etwas weggelassen habe. Aber in Berlin wären mir vielleicht teilweise andere Sachen eingefallen.“ Wenn das kein Plädoyer fürs Stadt-Theater ist!

Christine Wahl ist Theaterkritikerin. Der Turm im Staatschauspielhaus Dresden. Hier die Termine

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