Rettet das Christentum vor der Kirche!

Kierkegaard Der dänische Philosoph verachtet die Heuchelei der Kirchenvertreter so sehr, dass er den Einzelnen direkt vor Gott stellt: die Geburtsstunde der Existenzphilosophie.

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Eine päpstliche Messe im Petersdom: "Verzweiflung als wertvollen Ausgangspunkt für die Selbstdarstellung des Einzelnen vor Gott"
Eine päpstliche Messe im Petersdom: "Verzweiflung als wertvollen Ausgangspunkt für die Selbstdarstellung des Einzelnen vor Gott"

Tony Gentile/Gettyimages

An der Kopenhagener Langelinie des frühen neunzehnten Jahrhunderts spaziert ein kleingewachsener Mann im mittleren Erwachsenenalter. Mit seiner rechten Hand umklammert er zittrig einen kaputten Schirm, während er ängstlich seine Blicke abwechselnd von der Uferpromenade zu den vereinzelten, steinigen Spazierwegen gleiten lässt. Seine zermürbte, eingefallene Statur wird durch große, stahlblaue Augen aufgelockert. Zarte Handgelenke ragen unscheinbar hinter den langen Ärmeln seines Mantels hervor.

Die Rede ist von Søren Kierkegaard, der im Mai 1813 als letztes Kind einer streng katholischen und wohlhabenden Kaufmannsfamilie das Licht der Welt erblickt. „Ich bin von einem Greis ungeheuer streng erzogen worden; deshalb ist mein Leben mir furchtbar verwirrt worden“, stellt Kierkegaard rückblickend fest. Nach dem Tod seiner Mutter studiert er an der Universität Kopenhagen Theologie, begeistert sich aber zunehmend für die philosophischen Lehrveranstaltungen. Der schon zu Lebzeiten unbequeme Querdenker veröffentlicht zahlreiche Schriften im Eigenverlag, die nicht nur in kirchlichen Kreisen für Unmut sorgen: Er verlangt eine straffe Reformierung der Kirche, kritisiert die Unmündigkeit der Pastoren und rückt durch die Frage nach der individuellen Bestimmung immer wieder die Existenz des Einzelnen in den Mittelpunkt.

Verzweiflung überwinden durch die religiöse Existenzsphäre

In seiner Abhandlung über die Verzweiflung, in Krankheit zum Tode (dän.: Sygdommen til Døden) im Jahre 1849 erörtert Kierkegaard ein Phänomen, das den Einzelnen in Not bringt. Er macht deutlich, dass die Verzweiflung nur eng umschlungen mit dem Selbstverhältnis zu erklären ist, daher ein Mensch stets höchst individuell verzweifelt. Sohin erfährt der Einzelne auch nur Ausweg aus der Verzweiflung, wenn er sich eigenständig aus seinen Verstrickungen befreit. Gelingen kann dies, indem der Mensch Geist wird, d.h. sich zu sich selbst verhält und sich selbst akzeptiert. Zugleich ist auch eine Hinwendung zum Glauben, zur Allmacht Gottes, die ihn gesetzt hat, notwendig.

Kierkegaards Denken umkreist die Verzweiflung als wertvollen Ausgangspunkt für die Selbstdarstellung des Einzelnen vor Gott. Er geht davon aus, dass das Leben dem Einzelnen ein gnadenloses Entscheiden-müssen abverlangt. Das heisst auch, dass sich der Verzweifelte nur absichtsvoll in den Blick Gottes stellen kann. Eine solche Handlung verlangt aber zunächst, darauf zu vertrauen, dass Gott überhaupt existiert. Anknüpfend muss die Gewissheit der eigenen Existenz um die Sicherheit erweitert werden: Zwar hat der Mensch die Möglichkeit Gewissheit über seine Existenz zu erlangen indem er Sein und Denken verknüpft, doch erst das Spüren einer emotionalen Sicherheit, in welcher der Einzelne von Gott gesehen, gewählt und geliebt wird, macht eine Beziehung zu Gott denkbar. Vermutlich kämpft der dänische Dichter um die Herstellung eben dieser Vertrauenssicherheit, wenn er davon spricht, dass sich das Selbst des Menschen in Gott gründen muss, um der Verzweiflung zu entkommen.

„Das Christentum ist keine Lehre, sondern eine Existenz-Mitteilung!“

Dazu setzt Kierkegaard die ethische Realität des Individuums als einzige Realität an, in der Menschen ihre Existenzen durch die Hinwendung zu einer religiösen Sphäre ändern können. Das christliche Tun innerhalb dieser religiösen Existenzsphäre wird von Kierkegaard als Kommunikationsgeschehen zwischen den Menschen betrachtet, denn es geht um die Herstellung bejahender Resonanzen. Dafür braucht Kierkegaard aber weder selbstzufriedene Theologen, noch Moralkataloge einer Kirche. Wohl aber fühlende Menschen, die die Moralität ihrer Handlung im Rekurs auf ihr Gewissen, d.h. Gottesverhältnis, bestimmen.

Kierkegaard stirbt im November 1855 im Kopenhagener Fredericks Hospital an einem Nervenleiden und hinterlässt neben einem unermesslichen Reichtum an Schriften nur wenige materielle Güter. Dreissig Flaschen Wein, silberbeschlagene Pfeiffenköpfe und andere kleine Habseligkeiten übergibt er damals der Welt. Erst viele Jahre später wird der sensible und hochintelligente Eigenbrötler als herausragender Philosoph, religiöser Denker und Dichter des neunzehnten Jahrhunderts Würdigung für seine Werke erhalten.

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