Weltweit leidet etwa ein Prozent der Menschen an der Schizophrenie. Ihren Namen gab dieser Erkrankung der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857-1939). Als er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine Arbeit aufnimmt, sind die Behandlungsaussichten insbesondere für schizophrene Patienten denkbar ungünstig. Der Zeitgenosse Emil Kraepelin schreibt von den "entmutigenden Eindrücken", als er 22-jährig seine erste Stelle in der Kreisirrenanstalt München antritt. Das "verwirrende Gewimmel verblödeter, bald unzugänglicher, bald zudringlicher Kranker" und die "Ohnmacht des ärztlichen Handelns" lasten schwer auf seinen Schultern. Zwar liegen die Kranken nicht mehr in Ketten. Doch ein wissenschaftliches Verständnis für die verschiedenen
nen "Erscheinungen des Irreseins" fehlt rund hundert Jahre nach Begründung der Psychiatrie als eigenständiges Fachgebiet nahezu vollständig. Von modernen Behandlungsmethoden gar nicht zu reden. Was heute an Folter und Unterdrückung der Kranken erscheint - etwa Aderlass, kalte Duschen und Fixierung auf dem Zwangsstuhl - ist im historischen Kontext ein Stück "normales" Elend; Soldaten und Sträflinge haben damals auch nichts zu lachen.Doch vor die Behandlung haben Götter die Diagnose gestellt, und so macht Eugen Bleuler sich daran zu verstehen, was es mit dem "Irresein" eigentlich auf sich hat. 1886 bis 1898 ist er Direktor der Klinik Rheinau südlich von Schaffhausen. In dieser Zeit lebt er nahezu ununterbrochen mit seinen Patienten zusammen. Er beobachtet sie, spricht und arbeitet mit ihnen, macht sich Tausende von Notizen. Als er später seine Aufzeichnungen zusammenfasst, kommt ihm zugute, wozu sich bisher keine der Koryphäen auf dem Gebiet der Psychiatrie durchringen kann: Er steht Sigmund Freud und seiner Psychoanalyse offen gegenüber. Das heißt nicht, dass er alles bejaht, was der Meister aus Wien verkündet, im Gegenteil. Manche der Freudschen Annahmen hält er für nicht ausreichend belegt oder falsch. Und anders als Freud und Carl Gustav Jung deutet er seine Beobachtungen an den Kranken nicht im Sinn eines ursächlichen Verständnisses; vielmehr hält er daran fest, die Schizophrenie sei eine körperliche Erkrankung.Doch wir greifen vor. Denn noch gibt es den Begriff Schizophrenie gar nicht. Um die Jahrhundertwende hat Emil Kraeplin dieser Krankheitsgruppe den Namen Dementia praecox gegeben, was so viel wie "frühzeitige Verblödung" bedeutet. Damit ist Bleuler nun nicht mehr einverstanden. Beides, "Verblödung" und "frühzeitig", ist ihm zufolge nicht so charakteristisch, dass dieser Begriff gerechtfertigt wäre. Stattdessen schlägt er "Schizophrenie" vor: "Ich glaube nämlich, dass die Zerrissenheit oder Spaltung der psychischen Funktionen ein hervorragendes Symptom der ganzen Gruppe sei." Dabei ist es geblieben. 1912 will I. Bresler eine deutsche Bezeichnung einführen. Doch sein Vorschlag "Zwiesinn" wirkt heute skurril und setzt sich nicht durch.Zeitlebens begleitet Bleuel die Arbeit Freuds sowohl mit Sympathie als auch kritisch. Damit unterscheidet er sich deutlich von seinen Kollegen. Während etwa Kraepelin mit der Psychoanalyse kaum etwas anfangen kann, so sehr sind freie Assoziation und Traumdeutung seinem Wissenschaftsverständnis zuwider, prüft Bleuler jeden Freudschen Ansatz akribisch. Was das umstrittene Thema Sexualität betrifft, hat er keine grundsätzlichen Vorbehalte: "Meine persönliche Erfahrung bei der Schizophrenie gibt Freud in einer Weise Recht, die mich selbst höchst überraschte. Von den Hunderten von Patienten, die wir analysieren, war keiner ohne sexuellen Komplex. Bei den meisten war dieser der alleinige Beherrscher der Symptome ...".Das ist entwaffnend ehrlich und unideologisch. Wie sehr die Atmosphäre an der Zürcher psychiatrischen Klinik Burghölzli durch Freuds Gedanken geprägt ist, schildert Bleuler 1910: "Die Ärzte des Burghölzli haben einander nicht nur die Träume ausgelegt, sie haben jahrelang auf jedes Komplexzeichen aufgepasst, das gegeben wurde ...". Auf diese Weise haben wir einander kennen gelernt, bekamen gegenseitig ein einheitliches Bild von unseren bewussten und unbewussten Strebungen und man war ehrlich genug, die richtigen Deutungen als solche anzuerkennen." Ein solches Klima ist heute in einer psychiatrischen Klinik schwer vorstellbar.Wohl gemerkt: Eine heutzutage selbstverständliche symptomatische Behandlung der Schizophrenie mit antipsychotischen Medikamenten ist zu Bleulers Zeit überhaupt nicht absehbar. Anfang des 20. Jahrhunderts geht es darum, krankhafte Symptome zu verstehen und, sofern möglich, zu Krankheitseinheiten zusammenzufassen. Und ein solches Verständnis ist für Bleuler ohne die Psychoanalyse nicht denkbar. Er nennt diesen Ansatz "Tiefenpsychologie". Der Begriff setzt sich für alle Psychotherapieschulen durch, die von der Annahme eines Unbewussten ausgehen. Für Kraepelin und andere ist die Kluft zwischen gesund und krank unüberbrückbar. Dagegen betont Bleuler immer wieder die Nähe zwischen beiden, die Übergänge sind für ihn fließend: Potenziell Krankhaftes findet sich im scheinbar Gesunden, potenziell Heilsames aber auch im Schizophrenen.