Der Wolf ist los

Das wilde Thier Im antiken und mittelalterlichen Sagenkreis hat der Werwolf einen festen Platz. In der Neuzeit nimmt sich die Wissenschaft seiner an - und Wolfsmenschen gelten als verdorben oder irre

Mehr als 850 Schafe, 70 Ziegen und sogar drei Pferde sollen die Wölfe der französischen Seealpen in diesem Jahr bereits gerissen haben. Dabei schätzen Wächter des Mercantour-Naturparks den Bestand auf lediglich 60 bis 80 Tiere. Ginge es nach den betroffenen Bergbauern, Schafzüchtern und Hirten, wäre der Canis lupus in Frankreich bald wieder, was er zwischen 1947 und 1992 war: eine ausgerottete Spezies. Sollten da Reste des Werwolf-Mythos und damit verbundener, uralter menschlicher Ängste wieder aufgetaucht sein?

Dabei gab es den Werwolf nie, sondern ihrer viele, und sie bevölkerten fast alle Regionen Europas. Richard Andree, einer der ersten Anthropologen, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sogar zu dem Schluss gekommen, "dass die Werwolfsage über den ganzen Erdboden verbreitet ist". Doch ist der Werwolf vor allem Bestandteil der europäischen Erzähltradition.

Im Maule gewöhnliche Mordgier

Eine der ältesten Sagen zum Thema stammt aus dem hellenistischen Mythenkreis und erzählt von Lykaion, dem König der Arkadier. In der Absicht, die Geschmackssicherheit von Göttervater Zeus auf die Probe zu stellen, setzt er diesem eines Tages das Fleisch eines Menschen als Gastmahl vor. Zur Strafe verwandelt Zeus ihn in einen Wolf, der fortan ruhelos durch die Wälder streift. "(...) im Maule/ Sammelt die frühere Wut sich, und seine gewöhnliche Mordgier/ Richtet sich jetzt gegen Schafe (...)", heißt es dazu in den Metamorphosen des römischen Dichters Ovid. Im Rom der Antike war Diana die Göttin der wilden Tiere und besonders der Wölfe. Alle, die jenseits kultureller Ordnungen lebten, genossen ihren besonderen Schutz. Die Lupercalien, ein Fruchtbarkeitsfest, feierte man in der Lupercal-Grotte, wo einst eine Wölfin die Zwillinge Romulus und Remus, die Gründer Roms, gesäugt hatte. Die Feierlichkeiten werden als wilde Party beschrieben, bei der Männer und Frauen ihre Kleider tauschten und sich sexuellen Ausschweifungen hingaben.

In den nordischen Göttersagen ist der Wolf dagegen eher ein düsterer Geselle: Die Asen ziehen den Fenriswolf bei sich auf, um seine Wildheit zu zügeln. Doch er entgleitet ihrer Kontrolle, und am Ende verschlingt er sogar den Gott Odin. Folgerichtig bezeichnet der Schreckensruf "Der Wolf ist los" die Zeit des Umbruchs vor der Götterdämmerung. Hier - am Jüngsten Tag der Germanen - gerät jede Ordnung aus den Fugen.

In anderen nordischen Sagen schwingt die Rechtsauffassung mit, wonach der Wolf als Friedloser galt. Ein friedloser Mensch war aber auch der verbannte und rechtlos gewordene Verbrecher. Noch bei den salischen Franken und den Goten hieß er "vargr, Würger" oder Wolf. Dagegen ergreift das bretonische Lied vom Werwolf aus dem 12. Jahrhundert entschieden Partei für seinen Protagonisten: Es schildert die Tierverwandlung als Schicksal, Zwang und unverschuldetes Unglück. Der Werwolf ist hier nicht Täter, sondern Opfer, das sogar zum Gegenstand allgemeinen Mitleids wird.

Weibliche Mann-Wölfe

Der Name leitet sich aus "wer" für Mann ab und ist dem lateinischen "vir" verwandt. Doch auch Frauen können zu Mann-Wölfen werden: So befreit in Cervantes´ Roman Persiles und Sigismunda eine Zauberin den braven Rutilio aus dem Gefängnis und entführt ihn nach Norwegen. Als er sich dort gegen das heftige Liebeswerben seiner Retterin wehrt, verwandelt sie sich in einen Werwolf (mania lupa) und droht ihn zu verschlingen. In Frankreich sind es die loups garous um den See von Issarles im heutigen Département Ardèche, und auch in Deutschland gibt es fast überall weibliche Werwölfe. In Japan kann der Wolf sich dagegen in eine hübsche junge Frau verwandeln: Wer der Schönen mit der Rosenlaterne in den Wald folgt, wird ihn nicht wieder lebend verlassen.

Im Mittelalter ist die Vorstellungswelt der Menschen voll von merkwürdigen Wesen. Da ist der Werwolf zwar eine geheimnisvolle Gestalt, aber er ist nicht finsterer als die anderen Dämonen, die diese Welt bevölkern. Doch zum Ende des Mittelalters haben die Erschütterungen der Reformation den Schwerpunkt der christlichen Botschaft verändert. Statt der triumphalen Darstellung des Reiches Gottes auf Erden rückt nun Gottes Strafgericht in den Mittelpunkt des theologischen Interesses.

So wird der Werwolf im 16. Jahrhundert allmählich zum Komplizen Satans, der einzelnen Menschen als Gegenleistung für den Pakt mit ihm die Tierverwandlung möglich macht. Als Gegenwert für die Seele gewährt der Teufel Kraft und Schnelligkeit des Wolfes sowie die Freiheit, Mordlust und Triebhaftigkeit auszuleben. Paulus Aegineta beschreibt 1566 die Lykanthropen (= Wolfsmenschen): "Des Nachts verlassen sie das Haus, ahmen in allem Wölfe nach, und bis der Tag erscheint, streifen sie meistens um die Grabmäler der Verstorbenen herum. Die Begleiterscheinungen sind bekannt: bleiches Gesicht, kraft- und tränenlose Augen, völlig ausgetrocknete Stimme, ohne jeglichen Speichel im Mund, maßlos durstig."

Der Klever Hofarzt Johann Weyer (1515-88) ist Schüler des "magischen Wissenschaftlers" und Theologen Agrippa von Nettesheim. Als einer der entschiedensten Gegner der Hexenlehre hat er auch im Fall der "Werwölfe" von Besançon heftige Zweifel am Verfahren gegen die beiden angeklagten Hirten angemeldet. Aber noch ist Weyer Außenseiter, und kaum jemand hört auf ihn.

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist die Zeit indessen reif: Weyer und der Rostocker Jurist Georg Goedelmann erklären geständige Werwölfe für geistig und seelisch krank, jedenfalls für hochgradig melancholisch. Der Melancholie-Experte Robert Burton (1577-1640) vertritt die Ansicht, dass der weit verbreitete Glaube an die Wolfs- und Tierverwandlung einer "verdorbenen, überreizten und überhitzten Imagination" angelastet werden müsse. Einen gewissen Roulet verurteilt der Lieutenant criminel 1598 in Angers wegen Lykanthropie und Kindsmord zwar noch zum Tode; doch er appelliert an das Pariser Parlament, Gnade walten zu lassen. Dieses befindet denn auch, dass in dem armen Toren mehr Tollheit als Bosheit und Zauberei stecke, und befiehlt, ihn auf zwei Jahre in ein Irrenhaus zu stecken und dortselbst zur Erkenntnis Gottes zurück zu führen.

Der vertierte Mensch

Dem entsprechend setzt sich ab dem 17. Jahrhundert zumindest bei französischen Gerichten allmählich die Ansicht durch, dass geständige Wolfsmenschen in medizinische Betreuung oder die Fürsorge eines Klosters gehören. Unter dem kritischen Blick der Aufklärung wird der Werwolf - wie im Übrigen auch die Hexe - vom Delinquenten zum Patienten. Als der Tierarzt Joseph Claudius Rougement 1798 seine Beobachtungen zur "Hundwuth" veröffentlicht, kann er noch nicht wissen, dass Tollwut eine Virus-Erkrankung ist; doch verwahrt er sich ausdrücklich gegen den Volksglauben, die Gebissenen verwandelten sich in Werwölfe.

Es sind die Irrenärzte, die sich dem Werwolf als erste zuwenden, indem sie versuchen, ein Krankheitsbild zu beschreiben, das sie immer wieder unter den Insassen ihrer Anstalten antreffen. Im Bild des "vertierten" Menschen, wie ihn 1850 der Berliner Arzt Rudolf Leubuscher beschreibt, taucht der "altmodische, unerzogene Wilde" der frühen Neuzeit wieder auf, der sich dem Zivilisationsprozess entzieht oder als Verbannter davon ausgeschlossen ist. Das Rätselhafte am Werwolf, das man zunächst bekämpft, dann belächelt hatte, sucht man nun mit Hilfe des Skalpells und auf den Seziertischen zu ergründen.

Dem Psychiater Robert Eisler erscheint die Lykanthropie als eine Stufe der menschlichen Entwicklung - aus den Kindern der Pflanzenfresser wird ein Rudel fleischfressender Jäger. Sie lebt ihm zufolge nicht nur fort im Waffenhändler und im Kriegstreiber, sondern auch in der Dame im Pelz, die sich mit blutroten Lippen und langen Fingernägeln in die Häute abgeschlachteter Tiere hüllt. Zeitgenössische Psychoanalytiker berichten von Patienten, in deren Träumen orale Gier und Aggression sich im Werwolfmotiv eine Gestalt suchen. Und der russischstämmige Patient in Sigmund Freuds berühmtem "Wolfsmann"-Fall wäre ein paar Jahrhunderte zuvor womöglich zum Werwolf geworden; zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde er ein Neurotiker am Rande der Psychose.

In der Medizin kennt man das Syndrom der so genannte Lykorexie (= Wolfshunger, Heißhunger), eine Erkrankung, die wohl zum Teil auf einer Drüsenstörung beruht und bei der die Betroffenen sich wie Wölfe fühlen und aufführen. In einer Studie aus dem Jahr 1988 beschreiben Ärzte vom McLean Hospital in Boston Erfahrungen und erfolglose Therapieversuche mit Patienten, die sich in Wölfe, Katzen, Hunde, Kaninchen oder Springmäuse verwandelt glaubten. Sie krochen, sprangen, bellten, knurrten und heulten wie die von ihnen "gewählten" Tiere. In klaren Momenten gaben sie zu Protokoll, dass sie sich im Körper eines Menschen wie in einer Falle fühlten, aus der sie auszubrechen suchten. Die Tierverwandlung also als eine Art verfehlter Sprung in die Freiheit, als unbewusster Versuch, den "Irrtum des Fortschritts zu verkehren", wie der Anthropologe Cecil Helman schreibt. Ihm zufolge sind diese Patienten in ihrer Verrücktheit "traurige Architekten einer rückläufigen Evolution, der Verwandlung des Menschen zurück in ein Tier".

Dass man in Frankreich heute vergleichsweise empfindlich auf den Wolf reagiert, ist womöglich erklärbar; denn Geschichten von so genannten "unnatürlichen" Wölfen grassierten hier allerorten. Ein Nürnberger Flugblatt aus dem Jahr 1632 berichtet zum Beispiel von der "greulichen Bestie" aus Caen. Zwei illustrierte Drucke aus dem Jahr 1653 schildern die Untaten und den Tod des "ungeheuren wilden Thieres" aus Milly bei Paris, das im Frühjahr 1653 mehr als 140 Menschen getötet haben soll. Und einer Handschrift der Pariser Nationalbibliothek zufolge sollen dem Untier von Gévaudan, einer Gemeinde im Süden des Landes, noch in den Jahren 1764 bis 1767 130 Menschen zum Opfer gefallen sein.

Um die Wende zum 18. Jahrhundert kam es schließlich zu systematischen Ausrottungsaktionen. Dabei schaute man nicht ohne Neid nach England, wo der Wolf schon seit dem Mittelalter nahezu verschwunden war. Und 1783, in Zeiten politischer Spannung, dachten französische Politiker allen Ernstes darüber nach, "in England genügend Wölfe loszulassen, um den größten Teil der Bevölkerung auszurotten", wie Fernand Braudel in seiner Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts ausführt.

Zum Weiterlesen:

Elmar M. Lorey: Henrich der Werwolf. Frankfurt 1998.

Von Werwölfen und anderen Tiermenschen. Hrsg. von Klaus Völker. München 1982.


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