Dass man als allzu Flugbesessener in der Heilanstalt landen kann, belegt traurig-schön die Geschichte von Gustav Mesmer: 35 Jahre verbringt der "Ikarus vom Lautertal" mit den Diagnosen "Infantile Schizophrenie" und "Erfinderwahn" in den geschlossenen Psychiatrien von Bad Schussenried und Weissenau. Tatsächlich in der Luft war er mit seinen abenteuerlichen "Flug-Rüstungen" wohl nie.
Attribut der Götter
Vor gut hundert Jahren gelang den Brüdern Wilbur und Orville Wright in den Dünen von Kitty Hawk/ North Carolina in ihrem selbstgebauten Doppeldecker der erste Motorflug in der Geschichte der Menschheit. Doch unabhängig von seiner technischen Verwirklichung haben sich die Menschen zu allen Zeiten mit dem Fliegen beschäftigt. Die jeweiligen Vorstellungen spiegeln sich in Mythen, Riten und Märchen wider und treten als Träume und Visionen aus dem Unbewussten immer wieder neu zutage.
Flügel symbolisieren dabei das Sakrale schlechthin, denn Fliegen ist Privileg und Attribut der Götter. Aber auch dort, wo Götter oder übersinnliche Wesen nicht mit Flügeln dargestellt werden, zählt die Fähigkeit zu fliegen zu ihren Eigenschaften. Parallel dazu ist die Vorstellung der "Himmelfahrt" besonders befähigter Personen auf der ganzen Erde bekannt. Der Streit des Zauberers "Simon Magus" mit dem Apostel Petrus um das Recht zum Himmelflug zeigt, dass bei Unberufenen solche Unternehmen auch misslingen können: Sein frevelhafter Flug mit Hilfe des Bösen endete mit Absturz und dreifachem Schenkelbruch - eine Warnung an alle Christen, sich vor solcher Anmaßung zu hüten.
Nicht-technische Flugvorstellungen gab es aber keineswegs nur in "primitiven" Kulturen. Im 16. Jahrhundert trauen Inquisitoren ihren Ohren kaum, wenn Friauler Bauern zu Protokoll geben, dass sogenannte Benandanti (Wohlfahrende) in manchen Nächten ihre Körper verlassen und zu wechselnden Orten "fliegen", wo sie mit "stregoni" (Hexenmeistern) um den Ausgang der Ernte kämpfen. Ob Benandanti, dalmatinische "Kresniki" oder "donne di fuori" auf Sizilien - häufig sind sie von Geburt an durch bestimmte körperliche Merkmale gekennzeichnet: So werden die Wohlfahrenden mit der Embryonalhaut geboren, deren vorzeichenhafte Bedeutung als "Glückshaube" auch im deutschen Volksglauben bekannt ist. Durch ihre Kontakte zur "anderen Welt" besitzen diese "Auserwählten" Kenntnisse, die ihre Mitmenschen nicht haben: Sie können wahrsagen, heilen und böse Zauber erkennen. Symbol ihrer Sonderstellung ist die Fähigkeit zu fliegen.
Flugmärchen
"Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus", heißt es in einem Eichendorff-Gedicht. Die Vorstellung der Trennung von Körper und Seele spätestens am Ende des Lebens führt in vielen Kulturen zur Annahme, dass die menschliche Seele fliegen kann. Aber auch der Glaube, die Menschen seien von Gott erschaffen worden, um den Chor der mit Luzifer gefallenen Engel zu ersetzen, erklärt, warum der Seele Flügel wachsen. Folgerichtig wird die den Körper verlassende Seele meistens als Vogel beschrieben. Im Volksglauben verwandelten sich manche Männer in Werwölfe, Feen und Hexen dagegen in Katzen, Vögel oder Schmetterlinge. Dabei war die Verwandlung von Hexen in die farbprächtigen Insekten namengebend: "Schmetter" ist das altsächsische Wort für den Rahm der Milch, der Schmetterling demnach die verwandelte Zauberin, die heimlich geflogen kommt, um diesen Rahm zu stehlen. Synonyme waren "Molkendieb" und "Buttervogel", dem das englische "butterfly" entspricht. Der Schmetterlingstraum des taoistischen Philosophen Zhuangzi stellt die Grenzen zwischen äußerer Wirklichkeit und der Welt des Traumes in Frage: "Heute habe ich geträumt, ich sei ein Schmetterling. Woher weiß ich jetzt, ob ich ein Mensch bin, der glaubt, geträumt zu haben, ein Schmetterling zu sein, oder ob ich ein Schmetterling bin, der jetzt träumt, ein Mensch zu sein?"
Im Flugmärchen spielen phantastische Flüge und abenteuerliche Luftfahrten eine für die Handlung konstitutive Rolle. Das Stereotyp des verkappten Helden (Hirte, Soldat, Handwerker, Fischer), der durch den Bau eines Fluggerätes höchste Anerkennung erringt, eröffnet dem Flieger hier die Perspektive des sozialen Aufstiegs - geadelt und besiegelt meistens durch die Hochzeit mit der Prinzessin.
Traumzeit, Traumort
Ähnlich wie der Begriff "Zeit" in Sprache und Weltbild der Hopi-Indianer nicht vorkommt, können auch der Raum und seine Durchmessung in nichteuropäischen Kulturen einen anderen Stellenwert haben. Die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen, Kommunikation mit längst verstorbenen Ahnen und Geistern wird möglich. Der "Traumzeit" in der Mythologie der australischen Aborigines entspricht der "Traumort", der nirgendwo real existiert, im mythischen Denken jedoch stets präsent ist. So ist die entscheidende Voraussetzung für die meisten nicht-technischen Flugvorstellungen die Aufhebung der linearen Struktur von Raum und Zeit - charakteristisch für "primitive" Kulturen und für Träume.
Bereits das erste Flug-Kapitel des byzantinischen Traumbuches Achmet ben Sirin aus dem 8./9. Jahrhundert verbindet die positive Seite des Fliegens mit einer unverhohlenen Warnung: Träumt der Kaiser, "er fliege gen Himmel, (...) wird er die anderen Herrscher an Hoheit und Namen übertreffen ..." Einfache Leute dagegen, die "steil in die Höhe fliegen", hätten "Schaden und ein schnelles Ende" zu erwarten. Das Christentum legt Träume und Visionen als Offenbarungen Gottes aus - auf diese Weise behalten sie ihren Wahrheitsanspruch. Erst die höfischen Dichter des Hochmittelalters beziehen eine skeptischere Haltung: "An Träume soll ein altes Weib glauben, aber kein Ritter", heißt es etwa in Konrad von Würzburgs Trojanerkrieg.
Im Italien des 16. Jahrhunderts erwacht das Interesse an Träumen neu. Leonardo da Vinci betont dabei den Vorzeichencharakter, wenn er selbst seinen "Geiertraum" auslegt: "Ich nahm dies als Zeichen, dass ich mein Leben lang über Flügel sprechen werde." Und der mit Leonardos Familie befreundete Girolamo Cardano deutet in seinem vierbändigen Traumbuch von 1563 das Fliegen vor allem als Hoffnung - ausgenommen in Verbindung mit Fallen und mit ausgestreckten Füßen. Seit der Aufklärung dienen zunächst somatische Ursachen wie Drogenrausch und Geisteskrankheiten als Erklärung für Trauminhalte; die Romantik verweist dann wieder auf Bezüge zu Mythen und Märchen.
Flugängste
In der modernen Zivilisation artikuliert der Traum vom Fliegen - zunächst positiv besetzt - einen Wunsch. "Keine Traumart fordert so die Untersuchung und das Nachdenken des Psychologen heraus wie der Flugtraum", schreibt der Psychoanalytiker Paul Federn 1914. Der rasante Fortschritt technischer Flugversuche und die grundlegenden Aufsätze zur Psychologie des Flugtraumes gehen Hand in Hand. Sigmund Freud integriert in seine Traumdeutung von 1900 zeitgenössische Flugsymbole wie Luftschiff und Zeppelin. Flugträume sind im Unterschied zu Träumen vom Fallen nahezu immer lustbetont und werden daher häufig erinnert.
Im Vergleich zu frühen psychoanalytischen Deutungen erhält der Flugtraum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen negativen Beigeschmack. So kompensiert der Flugträumer dem Psychologen W. von Siebenthal zufolge in erster Linie Gefühle der Unzulänglichkeit: "Die Charakterisierung des Flugtraumes als Zeichen des gehemmten, verhinderten Emporkommens, des ständig Gescheiterten und mehr und mehr Kontaktarmen, Isolierten dürfte die allgemein gültigste sein." In seiner Studie Der Flieger deutet der Psychoanalytiker Hermann Argelander das Flugthema in der Lebensgeschichte eines Patienten als Reaktion auf eine frühe Kränkung: Die Geburt seines jüngeren Bruders entzog ihm die Aufmerksamkeit der Mutter. Gleichzeitig engte der autoritäre Vater ihn in seinen Entfaltungsmöglichkeiten so weit ein, dass er sich früh in eine Phantasiewelt flüchtete, in der er nicht abhängig und fremdbestimmt war. Den Flugwunsch begreift Argelander als Hilfe, um die Angst vorm Fallengelassenwerden zu überwinden. Mit Überwindung der Schwerkraft schwindet das Gefühl körperlicher Abhängigkeit - in der Luft wie auch in der Badewanne. "Völlige Unabhängigkeit heißt für mich, schweben zu können", sagt der Patient.
Verliebte Frauenzimmer in den Lüften
Von Anfang an eigentümlich gespannt ist das Verhältnis von Frauen und Luftfahrt - wird Fliegen doch rasch zur Metapher für weibliche Freiheitswünsche und weibliche Sexualität. Bereits 1716 schreibt Johann Andrea Agricola, dass die "verliebten Frauenzimmer", wenn sie eine fliegende Maschine hätten, sich "mit ihren lufft-fangenden Reiff-Röcken bald durch die Luft schwingen" würden, um rasch zu ihren Geliebten zu gelangen.
Sigmund Freud entdeckt die sexuellen Wurzeln des Flugtraumes und deutet Träume und Märchen in diesem Sinn. Paul Federn fasst 1914 zusammen: "Das Wohl- und Hochgefühl, das die gewöhnliche Art des Flugtraumes begleitet, entspricht also dem gesteigerten Kraft- und Unabhängigkeitsgefühl der sexuellen und lebensbereiten Einstellung." Ein Traum des Psychoanalytikers Wilhelm Stekel veranschaulicht dies so: "Ich fliege über die Köpfe anderer Menschen hinweg. Ich bin riesig stolz auf diese Eigenschaft. Eine Schar schöner Frauen, halb nackt, teilweise sitzend oder liegend, sieht mir bewundernd zu und applaudiert lebhaft. Eine sagt: Der kann´s aber!" In der chinesischen Kultur steht gemeinsames Fliegen für Eheglück. Und vom Orgasmus heißt es dort: "Die Seele fliegt über den Himmel hinaus."
Als die Zeitschrift Cosmopolitan ihre Leserinnen nach ihren Gefühlen beim sexuellen Höhepunkt fragte, beschrieben viele ein Gefühl der Leichtigkeit, des Fliegens und Schwebens. Zum realen Fliegen finden Frauen jedoch erst Zugang, als es sicher und langweilig geworden ist - als Stewardessen. Im Mai 1930 stellt Boeing Air Transport acht Krankenschwestern als erste Stewardessen ein - ein Riesenerfolg, den alle Konkurrenten sofort kopieren. Die Stewardessenfrage aus den fünfziger Jahren "Coffee, tea or me?" wird man heute nicht mehr allzu oft hören. Doch suggeriert die Werbung konsequent und unverhohlen Verfügbarkeit, Liebreiz und Dienstbarkeit der fliegenden Pflegerinnen.
Gibt es für den Traum vom Fliegen einen gemeinsamen Nenner? Mircea Eliade und Carl Gustav Jung betonen den anthropologischen Charakter von Flugträumen. Der Religionswissenschaftler Eliade hat zudem auf die universale Verbreitung des "magischen Fluges", der Himmelfahrt besonders befähigter Personen, hingewiesen. Demgegenüber zeigt der Linguist Benjamin Lee Whorf, dass viele scheinbar universale Denkstrukturen verschwinden, wenn man sich an die konkrete Sprachanalyse macht. Und Hans-Peter Duerr zufolge sind Missverständnisse unvermeidlich, wenn man Flugerlebnisse in "primitiven" Kulturen durch die Brille der Newtonschen Physik betrachtet. Man mag der These von universalen psychischen Anlagen kritisch gegenüberstehen; die Existenz nicht-technischer Flugvorstellungen in allen menschlichen Kulturen wie auch ihre inhaltlichen Übereinstimmungen (individuelle Freiheit, erotische Entgrenzung, höhere geistige Fähigkeiten, politische Macht, Jenseits- und Himmelsreisen, Tod) sind anders schwer erklärbar, auch wenn diese Vorstellungen je unterschiedliche Deutung erfahren können.
Während die Eskimos überzeugt waren, dass ihre Vorfahren zum Mond flogen, entwickelte man im Europa der Neuzeit die fixe Idee, dass die Nachfahren dies tun sollten. Neill Armstrong behauptete zwar, sein Schritt auf den Himmelskörper sei ein großer Schritt für die Menschheit, aber er sagte nicht, warum. Der babylonische König Etana brachte vom ersten literarisch und bildlich überlieferten Himmelflug immerhin das Kraut des Gebärens mit; trotz ständigem düsenverstärktem Aufbruch zu nahezu jedem Ort der Erde warten wir auf jenes mythische Ergebnis des Fliegens auch hundert Jahre nach dem ersten Motorflug immer noch.
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