Die Selfmade-Macht

Fracking Schon bald werden die USA von Gas- und Erdölimporten unabhängig sein. Das wird die globale Politik enorm verändern. Verlierer könnte auch die Europäische Union sein
Ausgabe 24/2014

Was wird von Barack Obama bleiben außer seinen Reden? Das fragen sich zur Mitte der zweiten Amtszeit nicht nur diejenigen, die ihm immer schon übelwollten. Er sei selbst ein besserer Redenschreiber als seine Redenschreiber, hat Obama gelegentlich bemerkt, und das nicht zu Unrecht. Aber den Präsidenten begleitet der Vorwurf, er rede gut und handle ungern. In der Militärakademie West Point hat Obama kürzlich eine außenpolitische Grundsatzrede gehalten. Sie war mit einer gewissen Spannung erwartet worden, weil Außenpolitik, sonst nicht Obamas Lieblingsthema, nach Wladimir Putins Aggression gegen die Ukraine neue Brisanz gewonnen hat. Was aber war das Neue? Osama bin Laden ist nun schon eine ganze Weile tot. Die vom Präsidenten so geschätzten Drohnen haben mehr Probleme aufgeworfen, als sie gelöst haben. In Syrien sind die USA untätig geblieben, ebenso in der Ukraine. Alles andere wäre den Wählern daheim schwer zu vermitteln gewesen.

Zugleich hielt Obama an der Sendung Amerikas als der „unentbehrlichen Nation“ fest. Wenn ein Tropensturm die Philippinen verwüste oder wenn Terroristen in Nigeria Schülerinnen entführte, dann rufe, so der Präsident, die Welt nach Amerika. Sie ruft tatsächlich, aber Amerika antwortet zögerlich. Der Welt kann es Amerika sowieso nicht recht machen: weder darf es den „Weltpolizisten“ geben noch sich in Isolationismus flüchten.

Alles auf dem Schirm

Obamas Rede in West Point hat dieses Dilemma in schönen Worten umkreist. Wir können nicht einfach ignorieren, was draußen in der Welt passiert, so Obama. Aber dieses Wissen muss nicht gleich in Taten münden. Das Irak- und Afghanistan-Desaster wirkt nach. In den USA macht man sich bisweilen lustig über Deutschlands Sehnsucht, eine große Schweiz zu sein. Dabei wünscht sich eine Mehrheit der Amerikaner genau das. Seit den Zeiten von 9/11 ist die Unterstützung der Bevölkerung für eine starke, idealistische Außenpolitik kontinuierlich zurückgegangen.

Wir haben alles auf dem Schirm, überlegen aber sehr genau, ob wir aktiv werden, so lautete die Botschaft des Präsidenten. Sie werden sich an internationale Gesetze halten und dennoch den Glauben an die amerikanische Ausnahmestellung in der Welt bewahren. Die USA, so kann man Obama verstehen, werden stets sowohl das eine wie das andere tun, ganz wie es ihre Interessen gebieten. Ihr Sendungsbewusstsein wird dabei nicht schwächer, sondern eher noch stärker werden.

Für diese politische Haltung gibt es einen neuen Grund, den Obama in seiner Rede nur am Rande erwähnte. Jedes Jahr wächst die Unabhängigkeit der USA von importierten Energien. Und das wird große Auswirkungen auf die Politik haben. Denn die Unabhängigkeit von Energieimporten wird es den USA erlauben, ihre strategischen Interessen völlig neu zu ordnen. Ein Land, das Energie nicht ein-, sondern ausführt, kann sich eine andere Außenpolitik leisten als eines, das energiepolitisch auf Saudi-Arabien, Kuwait oder Nigeria angewiesen ist. Die Lieferanten von Öl und Gas werden in Zukunft entbehrlicher sein. Ein Land, das seine Energieversorgung selbst deckt, hat noch immer Interessen in der Welt, aber es werden andere sein als bei einem Staat, der auf die Sicherung des eigenen Energiebedarfs durch andere Länder angewiesen ist. Die USA brauchen auf lange Sicht keine Energie-Statthalter wie die autokratischen Könige von Saudi-Arabien mehr. Ob das aber die Welt sicherer und freier macht, wird sich zeigen.

Obama hat gute Gründe, sich entspannt zu geben. Die Internationale Energieagentur erwartet, dass die USA bis zum Jahr 2035 energieunabhängig sein werden und sich spätestens dann die jährlich etwa 250 Milliarden Euro für ihre Energieimporte sparen können. Der Hebel, der das Energiedefizit in einen gigantischen Überschuss verwandeln wird, heißt Fracking, oder eigentlich „Hydrofracturing“. Das ist die Technik, bei der Wasser oder andere Flüssigkeiten gemeinsam mit Sand und Chemikalien bei hohem Druck in ein Bohrloch injiziert werden. Auf diese Weise werden im felsigen Untergrund kleine Risse oder Frakturen erzeugt, durch die dort gebundenes Gas, Öl oder Sole entweichen und zum Abfluss gebracht werden kann. Andere Länder, in Europa an erster Stelle Polen, setzen ebenfalls auf das ökologisch verheerende, wirtschaftlich aber gewinnbringende Verfahren.

Energieunabhängigkeit würde es den USA erlauben, die negative Handelsbilanz ins Positive zu drehen. Zudem wäre die Energierechnung insgesamt günstiger. Heimische Energie ist billiger und wird überdies vor allem bei heimischen Produzenten erstanden. Vor diesem Hintergrund sind steigende Wachstumsraten zu erwarten, oder anders: Das existierende Wachstum wird nicht mehr durch hohe Energiekosten aufgefressen. Hinzu kommt, dass Energiesicherheit, niedrige Preise und lokale Ressourcen die Produktion im eigenen Land beflügeln. US-Firmen, die ihre Produktion nach Asien oder anderswo ausgelagert haben, kehren zurück, wenn niedrige Energiekosten höhere Löhne überkompensieren. Ein solches „Reshoring“ liegt ganz auf der Linie des Präsidenten, der seiner Nation die Rückkehr zur industriellen Produktion verordnet hat. So könnte das US-Energiewunder in ein Wirtschaftswunder münden, bei dem die vielen Lieferanten des Weltenergiekonsumenten Nummer Eins das Nachsehen hätten. Und nicht nur sie, sondern alle Industrieproduzenten, die ihren US-Wettbewerbern in Bezug auf Energiepreise weit unterlegen sind.

Für die Ölproduzenten dieser Erde, und nicht nur für sie, sind das keine beruhigenden Nachrichten. Es gibt Länder, deren Öllieferungen an die USA zwischen fünf und zehn Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Saudi-Arabien, Angola, Ecuador, Nigeria, Kanada gehören dazu. Nicht nur werden die USA immer weniger Öl aus dem Ausland kaufen. Die eigenen billigen Ressourcen werden auch den internationalen Ölpreis nach unten ziehen. Das strategische Gewicht der klassischen Erdöl erzeugende Länder, namentlich der OPEC-Staaten, wird abnehmen. Sie werden nicht mehr nur deshalb auf politisches Wohlwollen aus Washington zählen dürfen, weil sie die USA verlässlich mit bezahlbarer Energie versorgen. Volkswirtschaften, die im Wesentlichen auf den Abbau von Rohstoffen ausgerichtet sind und die Produktion vernachlässigen – wie etwa Russland –, sind im Nachteil gegenüber Ländern, bei denen eigene Energie gleich auch weiterverarbeitet und verbraucht wird.

Was wären dann 2020 oder 2030 die Interessen der Vereinigten Staaten etwa im Nahen Osten? Noch sind die energiepolitischen Motive hinter der US-Außenpolitik unübersehbar. Der Irak etwa ist als Ölproduzent wichtiger als Syrien, was den unterschiedlichen Grad an militärischem Einsatz hier und dort erklären mag. Fällt das „Great Game“ um die Energieversorgung weg, wird es wahrscheinlich den bisherigen Profiteuren an den Kragen gehen, aber zu wessen Vorteil? Und was wird aus den Beziehungen zu Israel? Wenn die strategische Bedeutung des Nahen Ostens für die USA sinkt, wird sich auch die große Rolle, die Israel nach wie vor in der US-Außenpolitik spielt, ändern. Außenminister John Kerry hat darauf einen kleinen Vorgeschmack gegeben, als er vor wenigen Monaten seine Bemühungen um ein Friedensabkommen zwischen Israelis und Palästinensern frustriert einstellte.

Auch Russland wird für die USA an Bedeutung verlieren, während es als Lieferant für Europa unverzichtbar bleibt. Das erklärt Obamas Gelassenheit und Putins Ärger. Amerika wird keine mehr oder minder verkappten Energiekriege mehr führen. Einen US-Krieg um Öl wie 1990 im Irak wird es in Zukunft nicht mehr geben. Und alle Erdöl erzeugende Länder sollten sich nach neuen Quellen ihrer strategischen Relevanz umsehen.

Nachahmer sind zahlreich

Natürlich folgt nicht alles, was die USA in der Welt umtreibt, energiepolitischen Interessen. Es gibt auch andere Geschäftsfelder, man denke nur an die Rüstungspolitik. Außerdem werden die USA nie davon ablassen, ganz ohne geschäftliches Primärinteresse ihre Idee von Freiheit und Demokratie zu befördern. Die USA werden an Stabilität interessiert bleiben, und sie werden zu verhindern trachten, dass der Einfluss Russlands oder Chinas zu Lasten des Westens zunimmt. Die Unentbehrlichkeit der USA wird darin bestehen, dass sie die einzige Demokratie sind, die Russland oder China notfalls auch militärischen Respekt einflößt.

Ein Verlierer der neuen geopolitischen Verhältnisse könnte die EU sein. Energiepolitisch ist sie schwach, ihre Abhängigkeit von Russland wird erst nachlassen, wenn sie sich in größere Abhängigkeit von den USA begibt. Russland wird es ein Vergnügen sein, einen (energie-)politischen Keil zwischen die USA und (West-)Europa zu treiben und hat damit schon angefangen. Flächenstaaten in aller Welt werden sich mit dem Fracking auf einen Weg begeben, den die USA ihnen vorgezeichnet haben. Ein anderer Verlierer der weltweiten Energiewende ist die Umwelt. Zwar sinken die CO2-Emissionen in den USA, weil mehr eigenes, relativ billiges Öl oder Gas verbraucht wird. Aber der Fracking-Boom hat auch dazu geführt, dass mehr US-Kohle nach Europa verkauft wird und den CO2-Ausstoß erhöht.

Die frohe Botschaft der amerikanischen Energieunabhängigkeit, die Barack Obama nun gern verbreitet, ist keine gute für den Planeten. Aber Obama wäre nicht Obama, wenn seine politischen Ansagen nicht mehrdeutig interpretiert werden könnten. Die Zukunft gehöre dem Fracking, sie gehöre aber auch „unseren Kindern“, so der Präsident vor wenigen Tagen im Radio. Ihretwegen sollen die fossil betriebenen Kraftwerke bis 2030 ihren CO2-Ausstoß um 30 Prozent senken. Welcher Energiemix wird wohl notwendig sein, um dieses Ziel zu erreichen? Eines steht fest: Das Fracking wird dabei sicher nicht zu kurz kommen.

Christoph Bartmann leitet seit 2011 das Goethe-Institut in New York

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