Seit geraumer Zeit zerfällt unsere Gesellschaft immer stärker in Arm und Reich, weil die soziale Ungleichheit bei den Einkommen und Vermögen enorm zugenommen hat. Während das reichste Geschwisterpaar des Landes, Stefan Quandt und Susanne Klatten, im Frühsommer 2016 für das Vorjahr eine Rekorddividende in Höhe von 994,7 Millionen Euro nur aus BMW-Aktien bezog, lebten fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche in landläufig als „Hartz-IV-Familien“ bezeichneten Bedarfsgemeinschaften und mussten je nach Alter mit 237, 270 beziehungsweise 306 Euro im Monat (plus Miet- und Heizkosten) auskommen. Mehrere hunderttausend alleinerziehende arbeitslose Mütter sind froh, wenn sie am 20. des Monats noch etwas Warmes auf den Tisch bringen.
Trotzdem vernimmt man im Kampf gegen die Armut von fast allen Parteien und deren Spitzenpolitikern hauptsächlich Lippenbekenntnisse. Obwohl das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes den Bund zur Armutsbekämpfung verpflichtet, hat keine Regierung die Armut bisher als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erkannt und ihr konsequent entgegengewirkt. So beschloss die Große Koalition erst vor kurzem, den Hartz-IV-Regelbedarf der Kinder unter sechs Jahren 2017 nicht zu erhöhen.
Ich sehe mich als unermüdlichen Mahner und Warner, der die politisch Verantwortlichen seit Jahrzehnten auf das Auseinanderfallen der Gesellschaft hinweist, der an das soziale Gewissen appelliert und mehr Solidarität innerhalb der Gesellschaft fordert. Mein zentrales Motto ist soziale Gerechtigkeit, denn der vom amtierenden Bundespräsidenten Joachim Gauck aus biografischen Gründen besonders herausgehobene Begriff der Freiheit kann nur gelebt werden, wenn man über die zu ihrer Nutzung erforderliche materielle Sicherheit verfügt, sei es aufgrund von Kapitalbesitz, Erwerbstätigkeit oder staatlichen Transfers.
Für einen inklusiven Wohlfahrtsstaat
Ich stehe für einen inklusiven Sozialstaat, der alle Bevölkerungsgruppen bestmöglich vor den Lebensrisiken schützt, Armut wirksam bekämpft und durch Umverteilung von oben nach unten für sozialen Ausgleich sorgt. Seit der jüngsten Krise wird immer mehr Menschen klar, dass Banken, Spekulanten und Wirtschaftslobbyisten im globalen Finanzmarktkapitalismus zu viel Einfluss auf die Regierungspolitik haben. Daher plädiere ich auch für mehr plebiszitäre Elemente wie Referenden, Bürgerbegehren, Bürgerentscheide. Demokratie ist mehr, als alle vier oder fünf Jahre zu einer Wahlurne zu gehen. Sie zu beleben ist viel zu wichtig, um diese Aufgabe allein den Parteien zu überlassen.
Die Demokratie ist aber nicht nur durch die Macht der Finanzmarktakteure, sondern auch durch politische Apathie und die „Parteienverdrossenheit“ vieler Bürger gefährdet. „Politikverdrossenheit“ ist genauso wie „Wahlmüdigkeit“ ein irreführender Begriff. Auch er schiebt die Schuld den angeblich davon Befallenen zu, statt sie im Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu suchen. Tatsächlich handelt es sich um eine Krise der politischen Repräsentation, was daraus hervorgeht, dass die zunehmende Wahlabstinenz sich nicht gleichmäßig über alle Schichten verteilt, sondern vorwiegend die Konsequenz einer randständigen Existenz ist.
Das momentane Erstarken der Rechten in unserer Gesellschaft ist eine verhängnisvolle Nebenwirkung der neoliberalen Wende, die Margaret Thatcher und Ronald Reagan nach ihrer Wahl zur britischen Premierministerin beziehungsweise zum US-Präsidenten vor einigen Jahrzehnten eingeleitet haben und die endlich beendet werden muss. Dafür ist ein „Ruck“ nötig, aber in die entgegengesetzte Richtung, zu der, die Bundespräsident Roman Herzog einmal vorgeschlagen hat. Auf das Zeitalter der neoliberalen Austerität sowie der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich muss eine Epoche der größeren sozialen Gleichheit und der Solidarität mit Armen und Benachteiligten folgen.
Wenn man Inklusion nicht nur als pädagogisches Prinzip, sondern auch – in sehr viel umfassenderem Sinne – als gesellschaftspolitisches Leitbild begreift, muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat, der eine gleichberechtigte Partizipation aller am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht, das Ziel sein. Statt eines Um- oder gar Rückbaus des Wohlfahrtsstaates, wie ihn seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 sämtliche Bundesregierungen betreiben, wäre ein Ausbau des Systems zu einer Sozialversicherung aller Bürger nötig.
An die Stelle der bisherigen Arbeitnehmer- muss eine solidarische Bürgerversicherung treten. SPD, Linkspartei und Grüne orientieren sich im Gesundheitsbereich auf eine Bürgerversicherung. Diese könnte – so unterschiedlich die konkreten Vorstellungen hierzu (noch) sind – eine politische Brücke für ein fortschrittliches Bündnis oder eine rot-rot-grüne Koalition nach der nächsten Bundestagswahl bilden. Aber wer auch immer die Regierung bildet: Die solidarische Bürgerversicherung und andere Projekte einer sozialen, humanen und demokratischen Fortentwicklung unserer Gesellschaft sind nur realisierbar, wenn eine breite Bürgerbewegung außerparlamentarischen Druck macht.
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