Kai Ehlers nimmt sich Zeit für die Fragen, die er mit seinem russischen Freund, dem Dichter Jefim Berschin, erörtert, und das ist wohl einer der Schlüssel für die Qualität des Buches Russland – Herzschlag einer Weltmacht. Seit fast 30 Jahren kennen sich beide, und aus den abgedruckten Briefen geht hervor, dass sie spätestens seit Ende der achtziger Jahre einen intensiven Dialog pflegen über „das vermutlich einzige Land der Erde, das in seinem Grundbedürfnis autark ist und sich selbst aus eigenen Kräften und mit eigenen Mitteln erhalten kann“.
Kai Ehlers, geboren 1944, hat Russland seit Mitte der achtziger Jahre immer wieder bereist und schreibt seit vielen Jahren für den Freitag darüber. Seine Faszination bringt er auf den Punkt mit dem schönen Satz: „Ich verliebte mich, möchte ich sagen, in die Unruhe dieses Volkes.“ In zahlreichen Veröffentlichungen hat Ehlers die Transformation von der Planwirtschaft zum teils rohen Kapitalismus dargestellt.
Jefim Berschin, Jahrgang 1951, war in der Sowjetunion Redakteur der angesehenen Literaturnaja Gasjeta. Als Bürger der Dnjestr-Republik (Transnistrien) verlor er dann aber sein Aufenthaltsrecht für Moskau, nachdem die Zeitung von Oligarchen aufgekauft wurde. Er veröffentlichte Gedichtsammlungen und nahm als Beobachter am abchasisch-georgischen und tschetschenischen Krieg teil. Man tut ihm sicher nicht Unrecht, wenn man ihn als kritischen Patrioten bezeichnet. Die Dnjestr-Republik, früher Teil der Republik Moldau, ist als Staat auch heute völkerrechtlich nicht anerkannt, was für die dort lebenden Menschen bedeutet, dass sie für die Nachbarländer offiziell gar nicht existieren.
Labyrinthische Gespräche
Zu den Vorzügen von Ehlers‘ Buch gehört die Methodik der Darstellung. Es wird geradezu beispielhaft vorgeführt, wie weitreichend die Betrachtungsweise sein sollte, will man sich den schwierigen Fragen hinsichtlich Russlands künftiger Entwicklung stellen. Die Denkfigur des (kretischen) Labyrinths wird als Vorbild für den Verlauf der Gespräche gewählt, was dem Leser bald einleuchtet, erlaubt diese Vorgehensweise es den Autoren doch, die Frage nach der Entwicklungsdynamik Russlands aus sieben unterschiedlichen Perspektiven zu studieren.
Es wird keine billige Personalisierung von Politik oder Geschichte betrieben, der Denker Ehlers und der Poet Berschin erörtern im Dialog auch die schwierigen, schmerzhaften Fragen: die Ursachen für die Brutalität in der Armee, die Gräueltaten in den Kriegen, die auf dem ehemaligen Territorium der Sowjetunion stattgefunden haben.
Originalton Berschin: „Dir gefällt zum Beispiel unsere Literatur, aber du schaust mit Argwohn auf unser Militär. Bei mir ist es umgekehrt. Denn gerade Schriftsteller hatten in den ehemaligen Sowjetrepubliken den Nationalismus angestiftet und den Krieg entflammt und das Militär musste ihn beenden.“
Im ersten Gang von Ehlers‘ Buch wird die Smuta dargestellt, die Zeit der Wirren, die mit Generalsekretär Gorbatschow begann, und unter Boris Jelzin fortgesetzt wurde. Jelzin wurde in Russland nie als Demokrat angesehen, sondern als einer, der den Ausverkauf des Volksvermögens ermöglichte, als Mann des Chaos, Herr der Diebe und Betrüger. Man versteht nach der Lektüre, weshalb Russland nur von einem funktionierenden Zentrum aus regiert werden kann, und weshalb es als Integrationskraft im eurasischen Raum gebraucht wird.
Im zweiten Gang, betitelt „Der Faktor Mensch“, berichtet Berschin unter anderem von seinen eigenen obskuren Erfahrungen als beinahe Staatenloser. „Wie kann sich Europa nur die Situation in der Dnjestr-Republik ruhig mitansehen, wo der Mensch, der dort geboren wird, offiziell nicht existiert? Innerhalb Europas liegt eine Enklave, deren Pässe nicht gelten, selbst die Geburtsurkunde wird nicht anerkannt.“
Gemeinschaftskultur als Chance
Echte Brisanz erlangt das Buch jedoch an seinem Ende, im achten Gang, bei der Frage, ob in Russland „Elemente einer neuen Ethik“ zu erkennen seien. Hier scheint der gute alte Fjodor Michailowitsch Dostojewski die beiden Gesprächspartner inspiriert zu haben. „Der Mensch findet sich heute in der Leere des Kosmos, im Nichts. Darin liegt für mich die tiefste Bedeutung Russlands als Modell. In Russland zeigt sich exemplarisch, was geschieht, wenn Menschen Angst vor der Leere haben. Russland könnte vielleicht ein Modell für die Welt sein.“ So Berschin.
Ehlers sieht in der Tradition der Gemeinschaftskultur, durch welche sich Russland grundsätzlich vom westlichen Europa unterscheidet, eine nahezu utopische Chance, weil sie den Menschen auch unter schwierigsten materiellen Bedingungen das Überleben ermöglicht. In diesem Sinne könne die Welt, könne Europa von Russland lernen.
Das mag zunächst befremdlich klingen. Doch je länger die weltweite Krise des Modells der westlichen Industriegesellschaften andauert, desto wahrscheinlicher wird es, dass die belächelten Utopien bald brauchbare Ratgeber für die Praxis der nächsten Jahrzehnte sein werden.
Voraussetzung allerdings wäre eine Versöhnung Europas mit sich selbst, mit seinen kommunistischen Irrtümern, und mit dem Eingeständnis des westlichen Europas, dass auch die Jakobiner-Diktatur zur Tradition der Aufklärung gehört. Für den interessierten Besucher jedenfalls ist im Russland der Gegenwart Deutschlands Zukunft zu besichtigen.
Russland - Herzschlag einer WeltmachtKai Ehlers. Pforte, Dornach 2009, 340 S., 24,80
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