Im Jahr 1872 veröffentlichte F.M. Dostojewskij Böse Geister (Die Dämonen), den ersten Terroristen-Roman der Geschichte. Dostojewskijs Anti-Helden haben mit den Attentätern des 11. September 2001 einiges gemeinsam. Sie entstammen der Mittelschicht, sind jung, gehören zur Bildungselite oder haben zu ihr Kontakte. Sie reisen in den Westen, leben dort einige Jahre angepasst, bevor sie (in ihrer Heimat) zu Gotteskriegern und fanatischen Nihilisten werden. Auch damals fand eine Globalisierung statt, der Bau der Eisenbahn verband Russland und Europa. Die Verkehrswege wurden kürzer, ein Vergleich der Kulturen setzte ein, und aus dem Westen kamen die Maßstäbe, die Industrialisierung, der "aufgeklärte Eigennutz". Das Bewusstsein hatte in der Nützlichkeit seine Bestimmung gefunden, wie von Hegel erwartet. Es macht sich zum Objekt für die Wissenschaften und sucht im kausalen Denken neuen Halt, löst das Erlebnis durch die Erklärung ab. Für Gottfried Benn war dies später der eigentliche Epochenbruch Mitte des 19. Jahrhunderts.
Vielleicht hatte einer der Attentäter von 9/11 einen Stepan Trofimowitsch zum Vater oder als Erzieher. Stepan Trofimowitsch ist so begeistert von den Ideen der Gerechtigkeit, welche aus Westeuropa in die russische Provinz vordringen, dass er den kleinen Nikolai Stawrogin sogar nachts aus dem Schlaf reißt, um ihm von der schönen rationalen Zukunft zu erzählen, die bald auch in Russland anbrechen soll. Mit den nächtlichen Umarmungen "gelang es Stepan Trofimowitsch, die tiefsten Saiten im Herzen seines Freundes zu berühren und die erste, noch unbestimmte Sehnsucht zu wecken, die manche auserwählte Seele, nachdem sie einmal von ihr gekostet und sie erkannt hat, niemals mehr gegen wohlfeile Befriedigung eintauschen möchte."
Manchmal weint Stepan Trofimowitsch am Bett seines jungen Freundes. Ideen sind offenbar nicht alles, der Mensch hat Schwächen, fühlt sich vielleicht selbst als Versager. Was hilft der Gerechtigkeitssinn, wenn man sich doch schuldig fühlt. Die Rationalität kann die nächtlichen Tränen nicht erklären. Und so bittet der Lehrer das Kind um Rat, wie er sich bessern kann. "Es ergab sich irgendwie ganz natürlich, dass zwischen ihnen jede Distanz fehlte." Der Arzt hat sich zum Patienten ins Bett gelegt und erzählt begeistert von Europa. Die Deutschen vor allem seien die Lehrmeister, denn "Russland ist ein viel zu großes Missverständnis, als dass wir es aus eigener Kraft aufklären könnten, ohne die Deutschen und ohne Arbeit", meint Stefan Trofimowitsch, der Westler und Aufklärer.
Das Ende der Leibeigenschaft, liberale Justizreformen, die Öffnung der Universitäten für Frauen, der leichtere Zugang zu westlichen Publikationen entfalten in Russland eine Dynamik, in der Weltuntergangswünsche gut gedeihen. Die Terroristen wollen zerstören, was sowieso auf der Abfallhalde der Geschichte landen wird - Respekt vor Autorität, das Bewusstsein für Differenzen, Adelstitel, geschenkte Privilegien, Rechtsempfinden, Besitz, Freiheit. Aber sie wollen die Zerstörung als Theater. Sie wollen selbst die Brandstifter sein und nicht warten, bis moderne Rechtsinstitutionen Vernichtungspolitik betreiben, bis Deportation und Völkermord legal stattfinden, mit dem Segen von Volksgerichtshöfen oder im Namen des Volkes auf Grund von Paragraphen. Es sind die Abenteurer des Bösen, welche der neuen Zeit vorausreiten.
Stawrogin heiratet eine schwachsinnige Frau. Weil das Schändliche und Sinnlose dieser Hochzeit ans Geniale grenzt, reizt es ihn. Auf den Vorwurf, er wisse nicht, wonach er suche, antwortet er lachend: "Nach einer Bürde." Nicht der Verlierer, sondern der Überflüssige reklamiert das Recht auf seine Anwesenheit und auf seine Macht. "Die Feigheit in sich zu besiegen, das war es, was sie reizte. Immerwährender Siegesrausch und das Bewusstsein, keinen Bezwinger zu haben - lockte und trieb sie ständig von neuem an." Das Gefühl der Gefahr sei zu einem Bedürfnis ihrer Natur geworden.
Thomas Mann nannte Stawrogin die "unheimlich anziehendste Figur der Weltliteratur". Eine "rationale Verbitterung, die abscheulichste und fürchterlichste Form, die es geben kann", habe Stawrogin als Erwachsenen ausgezeichnet, meint der Erzähler des Romans. Nihilisten streben nicht nach irdischem Glück, sie verachten es.
Gott ist tot, doch was folgt daraus? Man erkennt einen Menschen an seinem Lachen, meint Dostojewskij. Er schildert seine Figuren wie ein Verhaltensforscher, auch die Verrückten und die Kinder sind bei ihm vollwertige dramatische Figuren. Dostojewskij entdeckt, wie tief das Bewusstsein sich spaltet, wenn es ganz auf das Diesseits gerichtet ist. Plötzlich besteht kein Unterschied mehr zwischen einem wollüstigen perversen Akt und einer Heldentat, denn Aufsehen erregen sie beide.
So verzerren sich die Ideen. Schatow ruft das russische Volk als Gottesträger aus, das dereinst die Welt erneuern und erlösen werde, Stawrogin spottet schon über diese Mission, die er einige Jahre zuvor noch gepredigt hat. "Die letzten Herrensöhnchen haben den Unterschied zwischen Gut und Böse verlernt, weil sie ihr Volk nicht kennen". Die Arbeiter der Fabrik werden mit Flugblättern aufgehetzt, sie zünden die Vorstädte an.
Stepan Trofimowitsch, verlacht von der Jugend, deren Partner er sein wollte, fantasiert von der abscheulichen Parasitenrolle der Russen unter den Völkern - "die Russen müssten ausgerottet werden zum Wohle der Menschheit". Selbst die Studentin, deren Privileg, studieren zu dürfen, neu war, will dieses Neue nur weghaben, will hassen.
Die Regierung ist überfordert und wirkt lächerlich, wie so oft in historischen Krisen. Der Gouverneur weint, seine Frau fällt in Ohnmacht oder regiert nach den Ratschlägen der Terroristen, mit denen sie in geheimer und offener Verbindung steht. Die Literatur tritt parfümiert auf in dieser Endzeit, der arme Turgenjew musste als Vorbild für die historische Verblendung und Ahnungslosigkeit dienen.
Die Prozesse, die Marx mit dem Begriff der Entfremdung beschrieb, erkannte Dostojewskij als menschliche Tragödie. Vom Staat sei keine Rettung zu erwarten, er sei eine Gefahr, weil er benutzt werden könne. Stawrogin und Werchowenskij, dem Kalten und dem Fanatiker, fehlen noch die Möglichkeiten, die später Stalin oder Kim Il Sung haben werden.
Russland, wie alle Staaten mit einem industriellen Rückstand von mehreren Jahrzehnten, muss aus westeuropäischer Sicht immer versagen. Nie wird es hier so "gerecht", "friedlich" und "durchdacht" zugehen wie im Westen. Dass tatsächlich nur unterschiedliche Maßstäbe zu solchen Aussagen führen können, nur der Grad der Sublimierung in der Urteilsfindung verkannt wird, bemerken weder die Slawophilen noch die Westler. Dostojewskij bleibt allein mit seiner Beobachtung, dass Stawrogin und Werchowenskij sich an Europa rächen wollen, weil sie nichts zu seiner Entwicklung beitragen können.
Mindestens drei Fragen Dostojewskijs bleiben aktuell. Was passiert, wenn Menschen nur vor ihresgleichen Angst haben? Erzeugt die Lust den Fanatismus? Fördert Wissen den Fortschritt oder das Glück?
Fjodor Dostojewskij: Böse Geister. Aus dem Russischen von Svetlana Geier. Ammann-Verlag, Zürich 1998, 1000 S., 65,90 E.; Fischer Taschenbuch, 976 S., 14,95 EUR
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